August 2021 | 16. – 31. August
Angst, Schrecken und Verzweiflung in Afghanistan. Wer hat Schuld und Verantwortung für dieses Desaster? Was sind die Lehren? Bei uns stockt die Impfkampagne. Sechs Millionen Impfdosen drohen zu verfallen. Die Delta-Variante findet unter Ungeimpften wehrlose Opfer en masse. Was tun? Kinder impfen oder noch mehr Druck auf Impfverweigerer?
Inhaltsverzeichnis
Unfassbares Leid
Die Afghanistan-Katastrophe. Totales Chaos am Flughafen. Terroranschläge. Tote und Schwerverletzte. Menschen, die im Gedränge tot getrampelt werden. Väter, die ihre Kinder über die Flughafen-Mauer heben in der Hoffnung, dass wenigstens die Kinder gerettet und ausgeflogen werden. Schockierende Bilder von Verzweiflung und Angst.
Deutschland trägt dafür eine Verantwortung. Deutschland hat am Hindukusch moralisch und ethisch versagt. Erst die totale Fehleinschätzung über den blitzschnellen Vormarsch der Taliban. Dann der kleinkarierte, bürokratische Umgang mit den afghanischen Hilfskräften und ihren Familien. Vor kurzem die von der Entwicklungsagentur angebotene Bleibeprämie für Ortskräfte. Unfassbar!
Jetzt schieben sich Maas, Kramp-Karrenbauer und Seehofer gegenseitig die Schuld am dem Schlamassel zu. Aber jeder von ihnen sagt, ich war es nicht, ich habe nicht versagt. Politische Verantwortung sieht anders aus. Einzig Kramp-Karrebauer deutet an, dass sie den Kopf hinhalten will. Na ja, Annegret Spaßbremse hatte nie ein glückliches Händchen bei politischen Krisen.
Scheinheilig
Schlimm: die scheinheilige Warnung der Kanzlerkandidaten Laschet und Scholz, dass sich 2015 nicht wiederholen darf. Unterschwellig stellen beide die Zuwanderung aus den Bürgerkriegs-gebieten als etwas Negatives dar.
Sie dämonisieren Syrerinnen und Syrer, die aus Not und Todesangst geflohen sind und unter schwierigsten Bedingungen bei uns in Deutschland ein neues Leben angefangen haben. Verkehrte Welt und politisches Kalkül vor der Bundestagswahl. Beide Politiker schüren Ängste vor einer angeblichen Fluchtwelle aus Afghanistan.
Eine Massenflucht von dort wird es nicht geben. Allein schon aus dem leider pragmatischen Grund, dass die jetzt herrschenden Taliban keine Afghanen mehr aus dem Land lassen. Selbst wenn Afghanen die Flucht gelänge, spätestens an der an der türkisch-griechischen Grenze wäre Schluss. Stichwort Bollwerk Europa.
Humanistisches Ausrufezeichen
Jetzt kommt es auf schnelles pragmatisches Handeln an, um noch zu retten, wer zu retten ist. Klar hat Deutschland eine moralische Verantwortung, die Menschen auszufliegen, die der Bundeswehr geholfen haben.
Aber Deutschland sollte noch mehr tun und auch jenen Menschen Schutzgewähren, die jetzt von den Taliban bedroht werden: Frauen-Rechtlerinnen und JournalistInnen, MenschenrechtlerInnen EntwicklungshelferInnen. Eigentlich allen, die sich den Vorstellungen einer islamistischen Gesellschaft entgegenstellen. Wunschdenken vielleicht, aber notwendig.
Versuchen sollte man es auf alle Fälle. Nicht nur, um ein moralisches, humanistisches Ausrufezeichen zu setzen. Schließlich benötigt die überalterte deutsche Bevölkerung dringend Zuwanderung. 400 000 Arbeitskräfte pro Jahr, fordert die Bundesagentur für Arbeit.
Marc Chagall
Ein Wochenendtrip in Lindau. Das liegt bekanntlich in Bayern. Dort sorgt Mephisto Söder für scharfe Corona-Regeln. So ist es verpflichtend, in öffentlichen Einrichtungen und in Bussen und Bahnen sowie in Supermärkten eine FFP-2-Maseke zu tragen.
Medizinische Masken reichen nicht aus. Das erfahre ich im Kunstmuseum in Lindau. Höflich aber bestimmt weist der Mann am Eingang an, FFP2-Masken am Ticket-Counter zu erwerben. Die Ausstellung trägt den erwartungsvollen Namen Marc Chagall – Paradiesische Gärten.
Zu sehen sind unter anderem mediterrane farbenfrohe Werke aus der Zeit, als der Künstler an der Cote d’Azur wohnte. Daneben beeindruckende tief-religöse Bilder, Erinnnerungen an seine weißrussische Heimat.
Mang-Turm
Angetan hat es mir ein Turm in Lindau, der Mangturm am Hafen. Ein trutziges Bauwerk der ehemaligen mittelalterlichen Stadtbefestigung aus dem 12. Jahrhundert. Im Hintergrund Segelschiffe vor der neubarocken Fassade des Finanzamts.
Ich skizziere dieses entzückende Panorama im Schnelldurchgang mit Bleistift. Die Konturen fahre ich mit dem Fineliner nach. Anschließend Colorierung. Sandstein-Gelb der Turm. Alt-Rosa das Finanzamt. Meine Zeichnung im Stile von Urbansketching bekommt estaunlich viele Likes auf Instagram. Danke!
Rigoletto in Bregenz
Highlight Rigoletto auf der Bregenzer Seebühne. Hinfahrt per Schiff über den See. Perfekt: Abendsonne. Weiße Segel. Alpenpanorama. Voraus grüßt der Pfänder, der Bregenzer Hausberg (1064 m). Erinnerungen werden wach an den beschwerlichen steilen Aufstieg vor zwei Jahren bei knapp 30 Grad. Belohnung für die Tortur: eine hinreißende Aussicht auf dem Gipfel.
Das Seebühnengelände ist mit Gittern abgesperrt. Es gibt mehrere Eingänge, an denen der impf-bzw. Testnachweis streng kontrolliert wird. Es ist noch warm und noch sind es 90 Minuten bis Vorstellungsbeginn. Die Sitzplätze in den Restaurants und die spärlichen Sitzgelegenheiten auf dem Gelände sind besetzt.
Auf dem Theatervorplatz drängeln sich die Besucher. Kaum Abstand zueinander. Da hätte die Festivalleitung für mehr Raum und vor allem mehr Sitzgelegenheiten sorgen müssen, denke ich. Also noch mal raus und am nahegelegenen Kiosk ein Bier kaufen und auf einer Sitzbank am See die Zeit bis zum Vorstellungsbeginn genießen.
Mehr Zirkus als Oper
Ich habe mir einen Platz in der ersten Reihe geleistet. Wunderbare Sicht auf das gewaltige Bühnenbild. Ein überdimensionaler Kopf, der sich hin her wendet, umrahmt von zwei ebenfalls großen Händen mit beweglichen Fingergliedern. Verdis geniale Musik ist immer ein Genuss. Die Sängerinnen und Sänger in Bregenz sind jedenfalls hervorragend.
Aber mit der bombastischen Inszenierung hat der Regisseur zu dick aufgetragen. Sie erinnert eher als eine Zirkusvorstellung als an eine Oper. Akrobaten, Musiker, tanzende Affen, Messerwerfer und Frauen mit überdimensionalen Brüsten. Für meinen Geschmack eher geschmacklos. Trotz allem eine beeindruckende Vorstellung.
2 G oder 3 G?
Ein mulmiges Gefühl bleibt. 5000 Zuschauer sitzen in der ausverkauften Seebühne eng nebeneinander. Geimpft genesen und getestet. Und zwar viele Besucher schnell getestet. Das sind die gleichen Vorgaben, die nach der neuen Corona-Verordnung seit Mitte August auch in Baden Württemberg für Großveranstaltungen gelten.
Das verspricht mehr Freiheit für (fast) alle. Bedeutet aber weniger Sicherheit. Schließlich ist erweisen, dass Schnelltests nur halb so viel Sicherheit bieten wie PCR-Tests. Folglich können Infektionen in vollen Sälen trotz Schnelltests auftreten.
Da ist die 2 G-Regel sicherlich sinnvoller, wie sie jetzt Hamburg für Kulturbetriebe und Gastronomie eingeführt hat. Oder etwa der FC St.Pauli oder der 1.FC Köln, die nur Getestete und Genesene ins Stadion lassen. 90 Prozent der Fans finden das gut.
Toleranz
Andere Bundesländer werden folgen. Und der Druck auf Ungeimpfte wird zunehmen. Spätestens ab Oktober, wenn Schnelltests Geld kosten, werden viele Impfverweigerer ihre Haltung ändern und sich doch impfen lassen, um einfacher öffentlichen Leben teilzuhaben.
Trotzdem ist das Gezeter und Getöse der Impfverweigerer groß. Impfdiktatur. Raub der Freiheit. So ein Quatsch! Wer sich die Freiheit nimmt, sich nicht impfen zu lassen, muss tolerieren, dass sich diejenigen, die sich impfen lassen, mehr Freiheiten genießen dürfen.
Wer bisher nach Thailand oder Afrika gefahren ist, hat sich doch auch gegen Hepatitis, Gelbfieber oder Cholera impfen lassen. Freiwillig und ohne zu Murren. Niemand fragt da nach möglichen Nebenwirkungen. Die Corona-Vakzine sind zwar schnell entwickelt worden, aber auf Herz und Nieren nach strengsten wissenschaftlichen Vorgaben geprüft worden. Sonst wären sie überhaupt nicht zugelassen worden.
Hospitalisierung
Auffallend ist, dass es die Nichtgeimpften sind, die jetzt mit einer Delta-Erkrankung in den Kliniken liegen. Wegen Delta steigt die Inzidenz erneut exponentiell an. Der bisherige 50ger Richtwert für schärfere Corona-Regen ist bundesweit längst überschritten. Jedoch die 50ger Messgröße ist mittlerweile passé.
Nach Beschluss der Bundesregierung gilt von nun an als Indikator die Hospitalisierung, also wie viele Angesteckte im Krankenhaus behandelt werden müssen. Die Inzidenz soll keine Rolle mehr spielen, da mittlerweile mehr als die Hälfte der Bevölkerung geimpft ist. Allerdings steigt mit den Infektionen unweigerlich auch die Zahl der Krankenhauseinweisungen. Mit der Folge, dass die Belastung für das Gesundheitssystem wieder zunimmt.
Aber eine Richtzahl, ab wie vielen Klinik-Einlieferungen von Corona-Patienten neue Beschränkungen kommen, liefert die Regierung nicht. Mal wieder eine halbgare Strategie, die vieles im Unklaren lässt. Mal wieder weder Fisch noch Fleisch.
Vakzin für Afrika
Es gibt und gab genügend Angebote, sich impfen zu lassen. Wenn man es trotzdem riskiert, sich zu infizieren mit der Folge, dass man mit einem Klinikaufenthalt das Gesundheitssystem unnötig belastet, ist das egoistisch und unverantwortlich.
Die stockende Impfkampagne führt zu einem weiteren Problem: Knapp sechs Millionen Impfdosen aus deutschen Arztpraxen und Impfzentren drohen zu verfallen. Ablaufdatum Mitte Oktober. Grund: Zu wenig Menschen lassen sich impfen.
Skandalös: Der Impfstoff darf nicht einfach an Länder der dritten Welt abgegeben werden, in denen er dringend benötigt wird. Warum? Weil es offenbar vertragliche Vereinbarungen mit den Herstellern gibt. Unglaublich und nicht hinnehmbar!
Immerhin, wenn auch spät, unterstützt Deutschland jetzt den Aufbau von Impfstoff-Produktionsstätten in Afrika.
Herdenimmunität
Noch ein Problem: Kinder impfen oder nicht? Die STIKO gibt jetzt grünes Licht fürs Impfen für 12-17jährige. Wie es heißt, sind jetzt genügend Daten für eine Freigabe vorhanden. Andererseits gab es im Vorfeld massiven politischen Druck von Seiten der Regierung. Ein Schelm, wer da Böses denkt.
Weil sie mit dem Impfen von Erwachsenen nicht weiterkommt, um die Herdenimmunität zu erreichen, müssen jetzt also die Kinder ran. Viele Kinderärzte sind jedoch nach wie vor der Meinung, dass Kinder sich zwar infizieren können, aber die Erkrankung locker wegstecken.
Hingegen besagen englische Studien, dass die Delta-Variante neben Ungeimpften vorwiegend Kinder und junge Erwachsene trifft. Und eine Erkrankung mit Delta sei für Kinder viel gefährlicher als eventuelle Nebenwirkungen einer Impfung. Das spricht fürs Impfen der Kinder.
Gar nicht berücksichtigt bei der Diskussion ist die Rolle, die mobile Luftfilter in Schulen und Kindergärten spielen könnten. Luftfilter haben gar keine Nebenwirkung. Aber für die massenhafte Ausstattung mit dieser Technik ist kein Geld da. Man könne ja die Fenster öffnen und auf diese Weise lüften.
Diese Leier haben wir nun oft genug gehört. Ich vermute der Grund für die Ablehnung von Luftfiltern ist ein anderer: Mit Luftfilter erzielt man keine Herdenimmunität, mit Impfen möglicherweise schon….
Long-Covid
Besorgniserregend: die Zunahme von Long Covid. Rund zehn Prozent aller Corona-Infizierten haben anschließend mit lang andauernden Beschwerden zu kämpfen. Die Betroffenen leiden an Kurzatmigkeit, Konzentrationsproblemen oder Muskelschmerz – sie sind nicht mehr belastbar. Viele können ihrer Arbeit nicht mehr normal oder gar nicht nach gehen.
Immerhin werden die dauerhaften Corona-Folgen in Gesundheits- und Pflegeberufen und in medizinischen Laboren als Berufskrankheit anerkannt. Hingegen gilt Long Covid nur als Arbeitsunfall bei ErzieherInnen, LehrerInnen, BusfahrerInnen, KassiererInnen und anderen Personen, die in Industrie oder Gewerbe in den Betrieben ihren Arbeitsplatz hatten.
Warum ist das so? Diese Beschäftigten haben genauso oft engen Kontakt mit möglichen Infizierten! Es wird Zeit, arbeitsbezogene Corona-Erkrankungen für alle Beschäftigtengruppen als Berufskrankheit anzuerkennen.