Dezember 2021 | 1. – 15. Dezember
Warum Angela Merkel und Olaf Scholz eigentlich Geschwister sind. Wer schafft es eher, Corona zu besiegen, ein Bundeswehr-General oder Talkshow-König Karl Lauterbach? Und: Warum 2Gplus und Impfpflicht auch Wasser auf die Mühlen der Impfskeptiker ist. Außerdem: Museum statt Oper in München.
Inhaltsverzeichnis
Scholz merkelt
Advent, Advent. Ganz Deutschland brennt. Corona hat das Land immer noch fest im Griff. Aber immerhin haben wir jetzt eine Regierung, die endlich regiert. Mit Olaf Scholz als frischgekürtem Bundeskanzler.
Angela Merkel ist zufrieden. Ist doch der dröge Hamburger ein Nachfolger nach ihrem Geschmack. Und ihr sehr ähnlich. Sehr belesen und fachkompetent, schmallippig, humorlos und ein gewiefter Taktiker. Ein Teflon-Mann, an dem alles abprallt. Bis jetzt. Denn die Skandale um Cum-Ex und Wirecard sind noch nicht vom Tisch. Die Raute und Aussitzen kann Scholz auch schon wie Merkel. Er hat lange gewartet, die Corona-Zügel in die Hand zu nehmen.
Aber dann kommt Scholz mit Wumms um die Ecke und mit Überraschungen. Überraschung eins: Statt bekannt zu geben, wer für den glücklosen Jens Spahn das Gesundheitsministerium übernimmt, verkündet Scholz, dass ein General den Corona-Krisenstab leiten soll.
General als Erlöser
Ein Militär soll gerade biegen, was die Zivilisten verbockt haben und die Impfkampagne auf Trab bringen. Damit will Scholz vor allem eins: ein Signal der Entschlossenheit setzen. Wenig Entschlossenheit beweist er jedoch mit der Besetzung des Amts des Gesundheitsministers. Da präsentiert er elendslang sein Pokerface, wartet mit der Verkündung bis zur Präsentation der künftigen SPD-MinisterInnen.
Überraschung zwei: Es doch Karl Lauterbach, der Gesundheitsminister wird. Dass der Epidemiologe und Talkshow-Dauergast den Posten bekommt, hat viel mit der öffentlichen Meinung zu tun, die dem Gesundheitsexperten Lauterbach am ehesten zutraut, den Kampf gegen Corona zu führen.
TV-Alphatier Lauterbach
Lauterbach ist unbestritten ein TV-Star. Ich bin mir nicht sicher, ob es Olaf Scholz gefällt, solch ein TV-Alphatier neben sich zu haben. Lieber hätte er eine Frau auf dem Posten gesehen. Ich denke, viele seiner ins Auge gefassten Kandidatinnen haben abgewunken. Ausschlaggebend ist Lauterbachs unbestrittene Kompetenz als Epidemiologe und unermüdlicher Corona-Warner, der mit seinen Prognosen fast immer richtig gelegen hatte.
Andererseits ist mit Lauterbach nicht gut Kirschen essen. Er gilt als Nachtarbeiter, exzentrisch und als Einzelkämpfer mit einem Hauch Arroganz. Nicht unbedingt ideale Voraussetzungen, um ein Team von Experten zu führen. Wollen wir hoffen, dass er uns eines Besseren belehrt.
Triage unabwendbar?
Die Zahl der Neuinfektionen sinkt leicht. Grund zur vorsichtigen Hoffnung, dass der Höhepunkt der vierten Welle schon erreicht ist? Zu früh gefreut. Zu viele Menschen sterben jeden Tag. Mehr als 500 Tote an einem Tag – erscheckend!
Auch die Hospitalisierungs-Inzidenz steigt. Besonders in Thüringen und Sachsen. Immer wieder schockieren die Bilder von Patienten, die mit Bundeswehr-Maschinen in andere Kliniken geflogen werden. In vielen Kliniken sind die Intensivstationen am Limit. Kein Platz mehr für Notfälle wie etwa Schlaganfälle, Herzinfarkte.
Der Höhepunkt der Corona-Einlieferrungen wird an Weihnachten erwartet. Schon jetzt berichten berichten Klinikdirektoren mit leichenblasser Miene, dass sie die Triage vorbereiten. Eine Horrorvorstellung.
Come impf an find out!
Und dann ist da noch Omikron. Einige wenige Fälle sind schon da. Diese noch infektiösere Variante wird im kommenden Jahr die Virus-Herrschaft übernehmen. Da sind sich die Experten sicher. Aber noch gibt es keine aussagekräftigen Studien, weder über die Schwere der Krankheit noch über die Wirksamkeit der verimpften Vakzine.
Es bringt nichts, sich jetzt in Panik zu versetzen. Wir sollten wir uns auf das konzentrieren, was augefällig ist und Not tut: Kampf gegen die vierte Welle, gegen Delta. Also impfen, was das Zeug hält. Weil die Politik trotz Warnungen im Sommer geschlafen und das Boostern ignoriert hat, muss jetzt der Turbo her.
Wie sehr es brennt, zeigt auch, dass jetzt sogar die Wirtschaft mithilft, das Impfen auf Trab zu bringen. Mehr als 150 Unternehmen und Marken werben gemeinsam für die Corona-Impfung. Unter anderem Mercedes, Edeka, Lidl und Douglas. Teilweise handelt es sich um mehr oder weniger witzige Abwandlungen bekannter Werbeslogans wie „Come impf und find out“ oder „Auf diese Impfung können sie bauen.“
Erneut fehlt Impfstoff
Das Engagement zeigt, dass auch der Wirtschaft das Wasser bis zum Hals steht. Die Unternehmen fürchten, dass Corona ihnen die Geschäfte verhagelt und ihre Belegschaft flach legt. Die Impfwerbe-Aktion der Unternehmen – ein guter Ansatz. Aber selbst die besten Ideen haben keine Chance, wenn erneut das Chaos regiert. Warteschlangen vor Impfzentren und Teststationen, fehlender Impfstoff, fehlendes Personal, Dienst nach Vorschrift.
Erneut zeigt sich die Unfähigkeit von Regierung und Verwaltung. In fast zwei Jahren haben es Bund, Länder, Kommunen und Verbände nicht geschafft, eine funktionierende Impfstrategie einzurichten. Das ausgerechnet jetzt, wenn sich die Impfbereitschaft offenbar leicht gesteigert hat.
2G-Tohuwabohu
Erneut reagieren die Länder unkoordiniert und panisch. Bestes Beispiel: das Tohuwabohu mit den 2G- und 2Gplus-Regeln. Quasi über Nacht ordnen Landesregierungen an, dass sich auch Genesene und Geimpfte testen lassen müssen, wenn sie Zutritt haben wollen für Restaurants, Cafes, Fitness-Center, Skilifte und andere Freizeitbereiche. Der Hammer: Die Regel gilt auch für bereits Geboosterte. Reaktion bei Genesenen und Geimpften: Unverständnis, Wut und ein immenser Sturm der Entrüstung.
Da hat doch niemand mehr Lust, spontan einen Kaffee trinken zu gehen oder Ski zu fahren, wenn er sich vorher testen lassen muss. Vor allem, wenn es sowie kaum Termine an den rar gesäten Testzentren gibt. Wir hatten jedenfalls keine Lust, uns einen Test zu besorgen, um zu unserem Tanzkurs zu kommen.
Aber dann: Einen Tag nach der Anordnung rudern Baden-Württembergs Kretschmann und Niedersachsens Weil zurück. Keine Testpflicht für bereits Geboosterte und für Personen, deren vollständige Impfung nicht länger als sechs Monate zurückliegt. Verkündigung an einem heiligen Sonntag. Auch das zeigt, wie unsinnig die Anordnung war.
Vertrauen verloren
Wie kann man Verständnis für eine eilig zusammengeschusterte 2Gplus-Regel erwarten, wenn die Testkapazitäten hinten und vorne nicht reichen? Es ist vor allem älteren Menschen nicht zuzumuten, dass sie sich bei Eis und Schnee morgens in eine ellenlange Schlange vor einem Testzentrum einreihen. Das müssten dann leider viele Menschen machen. Viele haben keinen Computer oder kein Handy, mit denen man online oder per QR-Code einen Termin fürs Testzentrum bucht. Ganz zu schweigen von Menschen auf dem Land, wo es kein Testzentrum gibt. Wie sollen die das nächste Testzentrum erreichen?
Nicht nur die Testzentren, Arztpraxen und Impfzentren werden zur Zeit überrannt. Auch die Labore wissen vor lauter Arbeit nicht, wo oben und unten ist. 4500 Tests bearbeitet das Labor Clotten in Freiburg täglich. Das war das früher das Pensum einer ganzen Grippesaison. Jetzt muss diese Zahl an nur einem einzigen Tag bewältigt werden. Wahnsinn. Viel Arbeit. Aber kein Vergleich zu der übermenschlichen Arbeit, die PflegerInnen und ÄrztInnen auf den Intensivstationen leisten.
Impfen beim Tierarzt
Die 2Gplus-Regel hat zwei Ziele: Einerseits verhindern, dass sich noch mehr Menschen mit dem Virus infizieren. Andererseits Druck ausüben auf Ungeimpfte, damit sie sich endlich impfen lassen. Aber Pustekuchen. Die paar Hansele, die sich in den Boosterschlangen an Impfzentren oder mobilen Stationen anstellen, um ihre Erstimpfung zu erhalten, helfen nicht, die Impfquote augenfällig zu steigern.
2Gplus verhärtet eher die Fronten und ist Wasser auf die Mühlen der Impfverweigerer. Sie fragen sich zu Recht, was eine Impfung bringt, wenn sie zusätzlich einen Test machen müssen. Aber dass es nur das Impfen ist, was uns aus der Pandemie bringt, ist sicher wie das Amen in der Kirche.
Nach dem verschlafenen Sommer, in dem wertvolle Zeit für die Booster-Impfungen verloren ging, drückt die neue Regierung auf die Impf-Tube. Jetzt sollen auch Zahnärzte, Apotheker und sogar Tierärzte ran. Alle, die irgendwie mit Spritzen zu tun haben, sollen mithelfen, die vierte Welle zu brechen. Die vierte Welle, die bereits im Sommer von Experten wie Drosten und Lauterbach vorhergesagt wurde. Hätten die Politik bloß auf sie gehört.
Eines kann ich überhaupt nicht verstehen: Dass es Leute gibt, die den Moderna-Impfstoff ablehnen und lieber das zur Zeit knappe Biontech wollen. Ein Luxusproblem, das wieder mal typisch ist für unser Wohlstandsland!
Oper abgesagt
Zurück zum Testen: Wie stressig es ist, selbst in einer Großstadt einen Test zu bekommen, haben wir in München erlebt. Eigentlich wollen wir dort in die Oper. Aber Delta macht einen Strich durch die Rechnung. Eine Woche vor der Reise nach München kommt die Nachricht per Mail: Alle Vorstellungen in Münchens Theater gestrichen. Verdammt!
Aber wir fahren trotzdem in die bayerische Landeshauptstadt. Mit Bauchschmerzen und extremer Vorsicht. Schließlich hat das Virus Bayern fest im Griff. Katastrophengebiet. Aber wir haben ein Reisepaket gebucht. Bahnfahrt plus Hotel. Das wollen wir nicht verfallen lassen. 3G gilt im Zug, doch niemand kontrolliert die Impfnachweise. Das soll jetzt anders werden, wenn die Zugbegleiter neben den Tickets auch die Impfnachweise kontrollieren dürfen.
Jeden Tag ein Test
Die medizinische Maske beanstandet beim Grenzübertritt in den Freistaat niemand, obwohl in Bayern überall FFP2-Masken Pflicht sind. Das bekomme ich gleich bei der Ankunft am Münchner Hauptbahnhof zu spüren. Kaum ausgestiegen, kommen zwei Polizisten auf mich zu. Sie weisen mich höflich aber bestimmt daraufhin, dass ich meine Maske sofort gegen eine FFP2-Maske tauschen muss.
Auf dem Weg zum Hotel kommen wir einem Testzentrum vorbei. Eine riesige Menschenschlange wartet dort. Wahrscheinlich alle überrascht von den Zugangsbeschränkungen in Geschäften, Restaurants, Klubs und Discos sowie der 3G-Regel in Bus und Bahn. Es ist Wochenende. Ausgehzeit. Testen lassen müssen wir uns auch. Jeden Tag. Schließlich wollen wir alle angesagten Galerien in München besuchen: Lenbachhaus, Brandhorst-Museum und die Pinakothek der Moderne.
Ein wahres Glück, dass ich die Testtermine vorsorglich online gebucht habe. Der allererste Termin morgens im Testzentrum am ZOB an der Hackerbrücke: Gedränge vor dem Eingang, bevor das Impfzentrum überhaupt öffnet. Eine sichtlich gestresste Mitarbeiterin schafft Ordnung, lässt zuerst die Personen mit Termin rein – also uns. Alle anderen müssen maulend warten.
Kandinski und Münter
Im Lenbachhaus erfolgt die Einlasskontrolle nach strikter Vorgabe: Scannen des Impfnachweises, Abgleich mit dem Personalausweis. Dann das Scannen des frischen Tests. Gefühlte zehn Minuten dauert das. Hinter uns ungeduldige und schimpfende Stimmen. Mittelpunkt der Ausstellung: Kandinski und seine Lebensgefährtin Gabriele Münter.
Von Kandinski kannte ich bisher nur abstrakte Kunst. Werke mit scheinbar ungeordneten geometrischen Formen wie Kreise, Dreiecke, Quadrate und Linien – alles farbenprächtig komponiert. Schließlich gilt Kandinski als Pionier des abstrakten Expressionismus und als Mit-Gründer des Almanachs Blauer Reiter. Wir sehen frühe Werke des Künstlers sowie die seiner Freundin Münter. Überraschung: impressionistische Werke. Kleine, feine Landschaftsbilder mit Motiven aus dem Voralpenland, aus Holland und Tunesien. Interessant: Die Künstler nennen ihre Werke Studien, sind aber meines Erachtens vollwertige Kunstwerke.
Plazenta und Vagina
Im Brandhorst-Museum immer wieder überwältigend – das imposante Farbschauspiel des 12teiligen Bildzyklus Lepanto des Amerikaners Sy Twombley. Im Untergeschoss schockt die Symbolkünstlerin Alexandra Bircken mit ihrer Objektkunst: ihre eigene Plazenta in einem Glaskubus, eine in Silber gegossene Vagina, eine aufblasbare Lunge, zersägte Motorräder und Kalaschnikows. Irgendwie faszinierend und befremdlich zugleich.
Himmelschreiend
Die Impfpflicht kommt. Erstmal für das Gesundheitswesen. Und höchstwahrscheinlich auch die Impfpflicht für alle. Trotz dessen, dass auch der neue Bundeskanzler Scholz sie noch im September ausgeschlossen hat. Vor allem die Porschepartei FDP hat sich bis zuletzt heftig gegen jegliche Impfpflicht und Freiheitseinschränkungen gewehrt. Die Impfpflicht – der letzte Ausweg aus der Pandemie und ersehnter Heilsbringer?
Bei der Impfpflicht beim Pflegepersonal bin ich mittlerweile zwiespältiger Meinung. Eigentlich ist es selbstverständlich, dass Menschen, die hautnah mit vulnerablen Personen arbeiten, geimpft sein müssen. Andererseits ist der Pflegenotstand im Gesundheitswesen altbekannt und hausgemacht. Schon vor Corona: Ertragszwang und Sparmaßnahmen, miserable Bezahlung der Pflegekräfte. Und dazu der unmenschlicher Pflegeschlüssel. In der Regel betreut eine Pflegekraft bis zu 15 Patienten. Statt sechs wie es in Holland oder Dänemark üblich ist. Unzumutbare, unhaltbare Verhältnisse in Deutschland. Eine himmelschreiende Notlage, die dringend verbessert werden muss.
Impfpflicht für alle
Aber statt daran etwas zu ändern, werden Pflegekräfte mit einem Minibonus abgespeist. Und jetzt sollen sie auch noch zwangsgeimpft werden. Das halte ich für grottenfalsch. Es darf nicht sein, dass nur die Beschäftigen im Gesundheitswesen geimpft werden, während die Impfverweigerer und Pandemietreiber verschont bleiben.
Deswegen bin ich für eine Impfpflicht für alle. Zwar ist die aktuelle Debatte über die Impfpflicht durchaus geeignet, den Zulauf an Impfgegnern zu steigern. Auch kann damit der radikale Kern in seinem irren Verschwörungsglauben bestärkt werden. Und er wird in der Tat immer radikaler. Vor allem in Sachsen, dem Land mit der niedrigsten Impfquote und der höchsten Inzidenz.
Nährboden entziehen!
Trotz massiver Verstöße gegen Versammlungs- und Corona-Auflagen demonstrieren in Sachsen Rechtsextreme Seite an Seite mit Impfskeptikern. Lange wurde diese Bewegung unterschätzt und blieb unbehelligt. Zu lange. Gleichermaßen ein Freibrief für Rechtsextremisten, zu noch radikaleren Protestformen zu greifen. Aber Morddrohungen und Fackelaufmärsche sind weder Meinungsäußerungen noch tolerierbare Proteste.
Das sind Straftaten, die mit allen Mitteln des Staates verfolgt und hart bestraft werden müssen. Parallel dazu muss die Politik der rechten Szene und den Impfskeptikern den Nährboden entziehen. Das bedeutet, die Pandemie schnellstmöglich in den Griff zu bekommen. Deswegen muss in der aktuellen Debatte deutlich und ehrlich kommuniziert werden, dass die allgemeine Impfpflicht unausweichlich ist.