Juli 2022 | 1. – 31.Juli
Die Sommerwelle rollt, die Inzidenz steigt. Warum wir Corona trotzdem die kalte Schulter zeigen. Inflation: Warum die konzertierte Aktion nichts bringt und jetzt ein Sondervermögen „Soziales“ notwendig ist. Außerdem: Lindners peinliche Hochzeit und ein durchwachsener Malkus auf Rügen.
Inhaltsverzeichnis
Sommerwelle
Sommerferien in Deutschland. Menschenmassen an Stränden und Badeseen. Rappelvolle Bars, Konzerte und Festivals. Niemand trägt Maske. Knallvolle Nahverkehrs- und Regionalzüge dank des 9-Euro-Tickets. Hier folgt man der Maskenpflicht. Anders beim Geschiebe und Gedränge auf dem Bahnsteig sowie beim Ein- und Austeigen. Da kann sich kaum jemand dem Atem des anderen entziehen. Trotzdem hat niemand eine Maske auf. Bizarr und verantwortungslos!
Das Coronavirus freut’s und überzieht uns mit einer Sommerwelle. Inzidenzen um die 700. Tägliche Neuinfektionen über 100 000. Tendenz steigend. Experten schätzen, dass die tatsächliche Zahl der Infizierten mindestens doppelt so hoch ist. Folge: ausfallende Arbeitskräfte in Wirtschaft, Verwaltung und im Gesundheitswesen. Die Angst vor dem Klinik-Kollaps ist zurück. Trotzdem scheint das niemand zu jucken. Die steigenden Ansteckungszahlen rufen nur noch ein gleichgültiges Schulterzucken hervor.
Keine Angst mehr
Je mehr Menschen sich infizieren, desto weniger scheinen noch Angst vor einer Ansteckung zu haben. Ein paar Tage Fieber, Hals- und Kopfschmerzen: Halb so schlimm. Das geht vorbei, oder? Irgendwann erwischt es jeden. Deswegen lässt sich kaum jemand testen, begibt sich freiwillig in Quarantäne. Und schon gar nicht wird deshalb der Urlaub storniert.
Das Virus hat seinen Schrecken verloren. Der Appell an Eigenverantwortung und Rüksichtnahme auf vulnerable Menschen ist verpufft. Feiern, Freiheit, es endlich wieder krachen lassen – das ist die Devise. Ein Risiko. Vor allem für ältere Menschen mit Vorerkrankungen. Schwere Krankheitsverläufe sind weiterhin möglich, auch das Risiko für Spätfolgen bleibt hoch.
Augen zu und durch
Die Politik setzt bei der Sommerwelle auf eine Augen-zu-und-durch-Strategie. Beschwichtigt. Keine Panik! Gleichzeitig verbreitet sie mit markigen Worten, dass sie an einem wirksamen Fahrplan für die Herbst- und Winterwelle arbeitet. Aber wie sieht die Strategie aus ? Alles wie gehabt: Gesundheitsminister Lauterbach mahnt, kündigt an, alles besser zu machen.
Und dann streicht er erstmal die kostenlosen Tests. Zu teuer auf die Dauer. Ein Schelm, der da nicht die Handschrift der FDP erkennt. Von nun an kosten die Tests drei Euro. Das trifft vor allem die Geringverdiener, die auf die Testzentren angewiesen sind, weil sie jeden Euro umdrehen müssen. Die wenig Betuchten werden bestimmt keine drei Euro für Tests ausgeben und sich gar nicht testen lassen.
Halbgare Evaluation
Auch bei seinem Sieben-Punkte Plan zur Pandemie-Eindämmung hat Lauterbach Federn lassen müssen. Auf Druck der FDP. Den Maßnahmenkatalog des Gesundheitsministers steicht Juppie-Justziminister Buschmann schon vorab zusammen. Mit den altbekannten liberalen Leerformeln: Persönliche Freiheit geht vor Gesundheitsschutz. Keine umfassenden Einschränkungen fürs Volk.
Futter für sein Bremsverhalten liefert den Egoisten von der FDP das Sachverständigen-Gutachten. Das wissenschafliche Gremium soll die bisherigen Corona-Maßnahmen evaluieren, um der Politik für die Zukunft Empfehlungen zu geben. Herausgekommen ist ein Halbgares. Weder eine klare Bestätigung der deutschen Corona-Politik, noch eine nachträgliche Ablehnung. Schuld daran: die fehlenden Daten. Wie überall in digitalen Entwicklungsland Deutschland.
Keine Maßnahmen?!
FDP-Buschmann scheint sich darüber zu freuen. Der Juppie-Justizminister schließt aus der Tatsache, dass man den Nutzen einzelner Maßnahmen nicht belegen kann, dass man am besten gar keine Maßnahmen ergreift. Immerhin stimmt er zu, dass eventuell Masken helfen. Wenn sie denn richtig getragen werden. Aber, wenn überhaupt, dann nur im ÖPNV und vielleicht in Innenräumen.
Dabei ist die Wirksamkeit von Masken eine der wenigen Erkenntnisse, zu der das Sachverständigen-Gutachten kommt. Aber Maskenpflicht, da macht Buschmann nicht mit. Er setzt liberalgemäß auf Eigenverantwortung und Freiwilligkeit. Wir sehen ja bei der Sommerwelle, wie wenig ernst es die Menschen mit Eigenverantwortung nehmen.
Konzept "Unterhaken"
Die Preise steigen, die Kaufkraft schrumpft. Vor allem Menschen, die wenig verdienen, wissen kaum noch, wie sie mit dem Geld über die Runden kommen. Was tun gegen die galoppierenden Preise? Zu einer konzertierten Aktion ruft Kanzler Olaf Scholz Politik, Gewerkschaften und Arbeitgeber zusammen. Unterhaken und gemeinsame Kraftanstrengung betitelt es sein Vorhaben. Was soll das?
Warum mischt sich der Zauderkanzler in bevorstehende Tarifverhandlungen ein? Will er doch doch noch beweisen, dass er zupacken und Führung kann? Alles Kosmetik und ein falscher Weg, der nichts bringt außer heißer Luft und Verärgerung. In Deutschland herrscht Tarifautonomie. Lohnverhandlungen sind Sache von Arbeitgebern und Gewerkschaften, und nicht der Politik!
Gespenst
Dennoch mischt sich Scholz ein. Warum? Er hat Angst davor, dass die Gewerkschaften mit hohen Lohnforderungen versuchen, den Kaufkraftverlust für die Beschäftigten auszugleichen. Er beschwört das Gespenst einer dauerhaften Lohn-Preis-Spirale. Steigende Preise, steigende Löhne: Wirtschaftskrise. Ein Spirale, die sich immer höher schraubt. Aber von wegen Lohnpreis-Spirale.
Bis jetzt gibt es nur eine Preisspirale, keine Spirale bei Löhnen! Trotzdem warnen viele Wirtschaftsbosse vor hohen Lohnforderungen. So mancher hat die Dreistigkeit zu behaupten, dass hohe Lohnforderungen mit schuldig sind am Preisanstieg der vergangenen Monate. Frech!
Reallohn schrmpft
Die Hauptursachen liegen woanders: Vor allem in zusammengebrochenen Lieferketten, Corona und dem Chaos auf den Energiemärkten in Folge von Putins Angriffskrieg. Steigende Löhne spielen dagegen eine untergeordnete Rolle. Tatsache ist, dass die Beschäftigen in Deutschland immer weniger in der Tasche haben.
Im vergangenen Jahr mussten sie einen Reallohnverlust von 1,4 Prozent verkraften. In diesem Jahr wird der Verlust angesichts der galoppierenden Inflation von knapp acht Prozent noch stärker ausfallen. Gerade jetzt sind hohe Lohnforderungen überaus angegebracht und legitim. Auch über den Inflationsausgleich hinaus, wie etwa von der IG Metall gefordert.
Boni für Aktionäre
Allen Wehklagen und Gejammer von Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger zum Trotz: So schlecht geht es der Wirtschaft nicht. Die großen Konzerne in der Digital-, Mineralöl- und Autobranche jedenfalls haben in diesem Jahr so viel an ihre Aktionäre ausgeschüttet wie nie zuvor. Ihre Auftragsbücher sind voll. Das Geschäft brummt. Die Vermögen der Kapitalisten wachsen rasant: 3.100 Superreiche besitzen mehr als ein Fünftel des gesamten privaten Finanzvermögens. Nachvollziehbar ist jedoch, dass es bei etlichen mittelständischen Unternehmen, die weniger Rücklagen haben, nicht so rosig aussieht. Ihnen dürften Lieferkrise und Energieknappheit schwer zu schaffen machen, so dass sie an der großen Kröte Lohnerhöhung schwer zu schlucken haben.
Stütze für die Großen
Aber wie es jetzt aussieht, greift die Regierung wieder nur den Großen unter die Arme. Die Kleinen gehen leer aus. Wie zu Beginn der Corona-Krise, als Lufthansa und Tui subventioniert wurden, will der Staat jetzt etwa den größten deutschen Gas-Importeur, Uniper, mit Milliardenbeträgen stützen.
Das ist letztlich auch wieder unser Steuergeld und auf den ersten Blick nicht ersichtlich. Die Alternative wäre, den Konzernen zu gestatten, die gestiegenen Preise für Gasimporte über das Energiesicherungsgesetz an die Verbraucher weiterzugeben. Gehupft wie gesprungen. Am Ende sind es wir Verbraucher, die bluten.
Steuer auf Übergewinne!
Am meisten profitieren die Mineralölkonzerne von der Energiekrise. Da ist eine Übergewinnsteuer regelrecht notwendig. Als Ausgleich für die Kosten des Entlastungspakets. Gibt’s bereits in Italien und England. Aber bei uns? Teile der SPD und Grünen, Linkspartei sowie Gewerkschaften fordern eine solche Steuer.
Scholz und die Unternehmerpartei FDP schmettern die Forderung brüsk ab. Ein Grund mehr, jetzt die Beschäftigten mithilfe höherer Tarifabschlüsse an den Unternehmer-Gewinnen zu beteiligen. Arbeitnehmer haben einen kräftigen Schluck aus der Pulle verdient.
Vergiftetes Angebot
Auf keinen Fall dürfen sich die Gewerkschaften mit dem Scholz-Vorschlag einer hohen Einmalzahlung abspeisen lassen. Ein vergiftetes Lock-Angebot, dass dazu dient, dass die Gewerkschaften auf hohe Lohnforderungen verzichten. Jedoch Einmalzahlungen taugen einfach nicht als Ausgleich für den Preisanstieg.
Jedes Prozent, um das die Preise bei Lebensmitteln, Mieten und Energiekosten steigen, frisst die Einmalzahlung in wenigen Monaten auf. Kanzler Scholz weiß das eigentlich. Er befürchtet zu Recht, dass dann der soziale Frieden in Gefahr ist. Anstatt sich in die Tarifverhandlungen einzumischen, sollte sich Scholz lieber um die Schwachen und Benachteiligten der Gesellschaft kümmern.
Sozialfrieden-Sondervermögen!
Die gestiegenen Lebensmittelpreise können sich immer weniger Menschen leisten und weichen auf Tafeln aus. Die geraten unter Druck, viele haben Aufnhmestopps verhängt. RentnerInnen, Alleinerziehende und Menschen, die im Niedriglohn-Sektor arbeiten sowie Harz IV-Empfänger leiden am stärksten unter den Preissteigerungen. Da helfen die drei Euro pro Monat wenig, um die der Regelsatz angehoben wurde. Jetzt sind es magere 449 Euro für einen 1-Personen-Haushalt. Ein Witz angesichts der hohen Inflation. Da muss Scholz noch eine kräftige Schippe drauflegen, anstatt nebulöse Sonntagsreden zu halten. Wenn der Kanzler es wirklich damit ernst meint, den sozialen Frieden in Deutschlang zu erhalten, dann ist es dringend notwendig, ein Sondervermögen für Soziales aufzulegen. Das ist mindestens ebenso wichtig, wie es das 100 Milliarden-Sondervermögen fürs Militär ist. Vielleicht jetzt noch wichtiger.
Lindners großkotzige Hochzeit
Angst um den sozialen Frieden, Spar-Apelle, Wirtschaftskrise – und dann diese Bilder von Lindners pompöser Hochzeit: Champagner, Austern und Trüffeln. Fünf -Sterne-Luxus Hotel. Ich will gar nicht wissen, wie viel Wut sich bei Harz IV -Empfängern und Geringverdienern anstaut, wenn sie die Bilder von Lindners Luxushochzeit anschauen. Auch mir schwillt der Kamm, mein Blutdruck steigt.
Drei Tage feiern und schlemmen auf Sylt, Deutschlands elitärster Insel. Gemeinsam mit der Berliner politischen Creme de la Creme: Scholz, Merz und Konsorten. Zuvor fordert der famose Finanzminister das deutsche Volk angesichts der kommenden Wirtschaftskrise zum Verzicht auf. Er spricht gar von vier bis fünf Jahren Knappheit. Wie dekadent und unverfroren ist das denn?!
Selber zahlen!
Die Volkseele vollends zum Kochen bringt die Nachricht, dass Lindner die Hilfsgelder für Langzeitarbeitslose um 600 Millionen Euro kürzen will. Und der großkotzige Lindner setzt noch einen drauf: Wegen der eingeladenen Politikprominez ist Lindners Hochzeitssause überwacht von Personenschützern, Hundestaffeln und Scharfschützen. Üblicherweise wird der Schutz von wichtigen Politikern bei öffentlichen Auftreten aus Steuermitteln bezahlt.
Aber Lindners Hochzeit ist keine öffentliche Veranstaltung, sondern allein seine Privatsache. Egal, wie viel öffentlichen Wirbel es darum gibt. Ich gönne Lindner sein privates Glück. Aber die Kosten für den umfassenden Schutzkonvoi soll er gefälligst selber bezahlen.
Kuhhandel um Gas und Atom
Zwei Nachrichten zur Klimakrise: eine schlechte und eine gute: Zuerst die schlechte. Gas und Atom sind plötzlich grün und nachhaltig. Welch ein Irrsinn! Das EU-Parlament vergibt mit seinem Taxonomie-Beschluss für Atom und Gas alle Chancen, beim Klimaschutz ernst genommen zu werden. Frankreich mit seinen 58 Atomkraftwerken hat sich durchgesetzt. Mit Aussicht auf Milliarden-Investitionen. Deutschland bekommt mit der EU-Entscheidung, Gas als klimafreundlich einzustufen, den gewünschten Bonbon. Unverantwortbarer Kuhhandel!
Rückschritt
Auch wenn beide Technologien nur als Übergangtechnologie gelten. Beide Entscheidungen sind ein Rückschritt und ein Skandal. Atomenergie bleibt eine hochgefährliche Risikotechnologie, die Jahrtausende lang strahlenden Atommüll produziert. Und Gas? In welche Nöte sich Europa mit seiner Abhängigkeit von dieser fossilen Energieform gebracht hat, ist spätestens seit Putins Angriffskrieg klar. Jeder Euro, den Investoren jetzt wegen des grünen Feigenblatts in Atomkraft oder Erdgas pumpen, fehlt bei den Zukunftstechnologien aus Sonne, Wasser und Wind.
Rückenwind für Winkraft
Die gute Nachricht: Die Ampelkoalition macht Ernst mit dem Ausbau erneuerbarer Energien. Nach dem vom Bundestag beschlossenen Gesetz sollen in acht Jahren 80 Prozent des in Deutschland verbrauchten Stroms aus klimafreundlichen Quellen stammen. Zentrale Rolle: der Ausbau der Windkraft.
Bisher herrscht dort Flaute, weil etwa Bundesländer wie Bayern, Nordrhein-Westfalen und Sachsen so gut wie keine Windräder bauen. Das geht jetzt nicht mehr. Künftig sind alle Bundesländer in der Pflicht, deutlich mehr Flächen bereitzustellen. Gemeinsam müssen sie auf zwei Prozent ihrer Flächen bis Ende 2032 kommen.
Söder lenkt ein
Für die einzelnen Länder gelten unterschiedliche verpflichtende Ziele, da es unterschiedliche klimatologische Voraussetzungen für den Ausbau der Windenergie gibt. Bayern, das sich lange gesträubt hat gegen Windkraft, muss jetzt bis Ende 2027 immerhin 1,1 Prozent der Landesfläche zur Verfügung stellen, bis Ende 2032 sogar 1,8 Prozent. Selbst der unberechenbare Mephisto Söder, bayerischer Ministerpräsident, sichert zu, die Vorgaben zu erfüllen. Aber wer weiß …
Wehmutstropfen
Der Wehmutstropfen bei dieser Weichenstellung fürs Klima: Gleichzeitig ist beschlossen, Kohlekraftwerke zur Stromerzeugung heranzuziehen. Vorübergehend als Gasersatz. Wow! Renaissance dieser verhassten CO2-Schleudern? Da bekommen nicht nur Grünen-Wähler und Fridays for Futur-Anhänger Bauchschmerzen. Aber Putins verbrecherischer Angriffskrieg wirbelt alles durcheinander. Andererseits muss man ehrlicherweise konstatieren, ohne die Energiekrise infolge des Krieges hätte der Bundestag nicht so schnell einen Booster für den Ausbau erneuerbarer Energien beschlossen.
Malreise nach Rügen
Malreise nach Rügen. Dauer der Reise von Freiburg auf die Insel in der Ostsee mit der Bahn: etwa 10 Stunden. Das habe ich bei der Buchung im Februar gewusst. Ich bin leidenschaftlicher Bahnfahrer, habe mir seit einem Jahr eine Bahncard erster Klasse geleistet. Einfach bequemer, ruhiger, mehr Bewegungsfreiheit am Sitzplatz.
Eine kluge Entscheidung, wie sich herausstellt. Denn nicht im Traum habe ich geahnt, was im Februar und danach alles passiert. Putins Angriff auf die Ukraine. Galoppierende Preise. Entlastungspaket der Bundesregierung. Darin das 9-Euro- Ticket. Finde ich gut, die Idee, Menschen mit dem Billigangebot den Umstieg auf die Bahn schmackhaft zu machen.
Beispielloses Gedränge
Das Angebot wird tatsächlich angenommen. Und wie! Menschemassen wollen plötzlich mit der Bahn fahren. Regional unterschiedlich. In Freiburg kaum ein Unterschied zu Zeiten vor dem Billigangebot. Jedoch Gedränge auf den Bahnsteigen in Städten wie Mannheim Hamburg, Rostock. Ganz schlimm: Hamburg.
Auf den Bahnsteigen ein Geschiebe und Geschubse wie in einem Fußballstadion. Es geht nicht vor und zurück. Menschen, die sich mit Gewalt in die schon vollen Regionalzüge zwängen. Die Amosphäre ist agressiv. Zweifelhafte Gefühle. Ich habe Mitleid mit jenen, die sich wie Sardinen in den Abteilen der zweiten Klasse quetschen. Und fühle mich privilegiert. Die erste Klasse ist angenehm leer.
Ordnung im Chaos
Ich bewundere die Bahnbegleiterinnen, die in der rappelvollen 2. Klasse einen kühlen Kopf und die Ruhe weg haben. Wie Dompteure in einem Zoo. In freundlicher, aber bestimmter Manier schaffen sie Ordnung im Chaos. Zum Beispiel, wenn sie gegen die Unsitte mancher Reisender vorgehen, die ihre Koffer neben sich auf dem Gang platzieren. Oder ihr Gepäck neben sich auf dem Nachbarsitz lagern.
Auf Rügen habe ich eine Gästewohnung gebucht, unschlagbar günstig. Nachteil: nicht in den berühmten, aber sauteuren Seebädern wie Binz oder Sellin, sondern im Hauptort der Insel, Bergen. Dank des 9-Euro-Tickets kommt man trotzdem überall hin. Wenn der Bus denn kommt. Dass er nicht kommt, ist nicht nur einmal passiert, trotz Fahrplan.
Unzählige Skizzenbücher
Malkurs bei Hanne Petrick auf Rügen. Sie hat ihr Atelier im Norden der Insel, in einem auffällig blau gestrichenen Haus, in dem sie auch wohnt. Im Atelier gerahmte Aquarelle an den Wänden. Motive: Rügen, was sonst. In jeder Ecke ein Regal, gefüllt mit unzähligen Skizzenbüchern.
Die Künstlerin legt viel Wert auf Skizzen, wirkt aber fahrig, als sie uns ihre Skizzen präsentiert. Sie sollen uns als Anleitung dienen, aber Hanne springt von einem Motiv zum anderem. Von hohem Horizont zum niedrigen, von Kreideküste zu Felsküste. Von Wolkenformationen bis zu Wellen. Der Eindruck von Sprunghaftigkeit und Konzeptlosigkeit verstärkt sich im Laufe der Kurses.
Malen kommt zu kurz
Hinzu kommt ein weiterer Mangel: Die Malorte, die die Künstlerin aussucht, sind sehr abgelegen. Lange Anfahrt, dann Fußmarsch durch Wälder oder über lange Strandabschnitte. Das bedeutet, dass die Zeit zum Malen für uns sehr kurz ist. Kaum drei Stunden pro Tag. Da stimmt das Preis-Leistungs-Verhältnis nicht. Was mich und manche TeilnehmerInnen zudem gehörig nervt, sind die esoterischen Vorträge über die Schwingungen, die Hanne Petrick ihren ausgewählten Malorten zuschreibt. Kurz und (nicht) gut: Der Kurs hat mich nicht weitergebracht.
Kreidefelsen
Aber die Bäder-Architektur in Binz und Sassnitz hinterlässt einen unvergesslichen Eindruck, ebenso die fantastische Natur. So zum Beispiel die Wanderung über den Küstenhöhenweg von Sassnitz zum Königstuhl, dem höchsten Berg der Insel. Er führt durch einen uralten Buchenwald. Manchmal eröffnen sich abenteuerliche Blicke auf Kreidefelsen. Vorsicht, nicht zu nahe an den Rand treten! Abbruchgefahr! Zauberhaftes Farbspiel, wenn die Sonne auf die weißen Felsen scheint. Ungeheuer erholsam, die Stille im Wald, in der man nichts außer Vogelgeschwitzer hört.
Prora – Koloss von Rügen
Wunderbar und irreal zu gleich: die Wanderung am kilometerlangen Strand von Prora nach Binz. Nackte Füße über kühlem, weißen Sand. Die Sonne brennt. Linker Hand die scheinbar unendliche Ostsee. Auf der Landseite werfe ich ungläubige Blicke auf den monumentalen Koloss von Rügen Prora. Fünf aneinandergereihte sechsstöckige Häuserblöcke. Jeweils 500 Meter lang. Insgesamt misst der eintönige Riegel 4,5 Kilometer lang. Ursprünglich von den Nazis geplant als Kraft durch Freude-Urlaubsfabrik. Nie ganz fertig gestellt. Im Zweiten Weltkrieg diente der Koloss teilweise als Sitz eines Polizeibatallion, später teilweise als Lazarett.
Luxus-Appartements
Nach 1945 nutzt die Rote Armee den Bau. Später zieht die Nationale Volksarmee ein, nach der Wiedervereinigung die Bundeswehr. In den 90er Jahren gammelt der Bauriese vor sich hin. Niemand weiß so recht, was mit dem Monumentalwerk anzufangen ist. Denkmal, Mahnmal oder wirtschaftliche Nutzung? Schließlich setzt sich das Profitinteresse durch. Nach und nach werden Gebäudeteile verkauft und anschließend saniert. Es entstehen mehrere Luxushotels, Restaurants, Cafes und vorwiegend hochpreisige Appartements und Ferienwohnungen. Quadratmeterpreis: 6500 Euro und mehr.
Bäderarchitektur
Trotz der unverschämten Preise sind die Domizile heißbegehrt. Die Strandkörbe, die zu den Appartements und Hotels gehören, sind gut belegt. Schon jetzt am Anfang der Saison. Nicht auszudenken, wenn Menschenmassen in der Hochsaison den Strand bevölkern. Irgendwie imposant und verstörend zugleich, dieser Kolloss. Die schnuckelige Bäderarchitektur von Binz ist mir lieber. Weiße Hotels und Strandvillen mit liebevoll gearbeiteten Holz-Balkonen und -Veranden. Antik anmutende Säulen. Verspielte ornamentale Kunst an Spitztürmchen, Rundbögen. Irgendwie romantisch, leicht. Welch ein Gegensatz zum schweren, bombastischen Prora!