März 2022 | 1. – 15. März
Tod, Leid und Zerstörung in der Ukraine. Zwei Millionen Menschen auf der Flucht. Überwältigende Hilfsbereitschaft, aber Zwei-Klassen-Solidarität. Vom Pazifisten zum militärischen Player. Was bringt die deutsche Kehrtwende? Und: Warum Atomstrom keine Lösung ist.
Inhaltsverzeichnis
Ohnmacht
Weinende Kinder, verzweifelte Mütter, zerbombte Wohnhäuser, sogar Kliniken in Trümmern. Tod, Leid und Zerstörung. Schreckensbilder aus der Ukraine. Sie zerreißen das Herz, machen traurig und wütend zugleich. Wut auf den brutalen Gewaltherrscher im Kreml. Maßloses Mitgefühl für die Menschen in der Ukraine. Gleichzeitig ein Gefühl der Ohnmacht. Viele Fragen.
Wie kann das passieren? Wer kann und wie kann man das Leid und das Blutvergießen stoppen? Was kann ich tun, um den Menschen in der Ukraine zu helfen? Geld spenden, mitdemonstrieren – ja. Und Winterkleidung, die ich nicht mehr brauche, den umtriebigen Ukraine-Helfern vom s’Einlädele in Freiburg zur Verfügung stellen. Wenig. Zu wenig. Das Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit bleibt.
Angst vor Flächenbrand
Daran ändert sich nichts. Weder die markigen und mutigen Worte von Biden, Scholz und Baerbock. Nicht die massive Aufrüstung in Europa, und auch nicht die Soldaten, Panzer und Waffen, die wir und die USA in die Ukraine und in die Länder an der NATO-Ostflanke schicken. Im Gegenteil.
In das Gefühl von Hilflosigkeit mischt sich Angst. Angst davor, dass alles noch schlimmer wird. Dass der Krieg zu uns kommt. Was ist, wenn ein Querschläger, eine Provokation an der Grenze zwischen NATO-Gebiet und Ukraine einen Flächenbrand auslöst?
Bewundernswerter Mut
Natürlich kann ich verstehen, dass Waffen geliefert werden, wenn Menschen in Kiew, Charkiw und Mariupol um ihr Leben fürchten, weil ihre Städte bombardiert werden. Das ist eine Extremsituation. Das ist Notwehr. Dabei geht es um die Verteidigung des nackten Lebens.
Ich bewundere den Mut und die Opferbereitschaft der Ukrainer, die sich heroisch dem russischen Aggressor entgegenstellen. Unfassbar der Mut der Menschen, die mit bloßen Händen versuchen, russische Panzer aufzuhalten.
Genau so bewundernswert der Mut der Menschen, die in Moskau und St. Petersburg auf die Straße gehen. Sie protestieren trotz empfindlicher Prügel- und Strafandrohung gegen den unsinnigen Krieg, den ihr eigenes Land gegen ein Brudervolk führt.
Die Wahrheit
Mutig sind auch die russischen Blogger und Journalisten, die weiterhin auf den sozialen Netzwerken über die Gräueltaten russischer Soldaten in der Ukraine berichten. Sie tun dies, obwohl ihnen in Russland Gefängnis bis zu 15 Jahren droht.
Die Wahrheit lässt sich eben nicht einsperren: Über Tiktok, Telegram oder andere Kanäle sickern auch weiter Berichte und Videos von abstürzenden russischen Kampfhubschraubern und getöteten russischen Soldaten ins Land. Trotzdem und leider wird dies alles den Ukrainern nicht helfen angesichts der russischen militärischen Übermacht. Aber vielleicht doch.
Hoffnungsschimmer
Erstmals ein Treffen auf höchster Ebene. Gespräche zwischen den Außenministern Russlands und der Ukraine. Ein Hoffnungsschimmer. Beide Kriegsparteien formulieren erstmals Kompromissvorschläge. Russland scheint offenbar nicht länger auf einem Regierungswechsel in Kiew zu beharren. Die Ukraine bietet die Möglichkeit eines neutralen Status außerhalb der Nato an.
Jedoch die Gespräche scheinen doch nur eine Show Putins zu sein. Trotzdem: Wenigstens ein Waffenstillstand sollte machbar sein. Zum Frieden jedoch ist es noch ein langer Weg. Vor allem, weil niemand weiß, wie weit man diplomatischen Zusicherungen Russlands trauen kann. Schließlich ist es Putin, der Verträge bricht, Diplomatie und Völkerrecht ignoriert und die europäische Friedensordnung zerstört.
Überwältigende Solidarität
Mehr als zwei Millionen Menschen sind inzwischen aus Ukraine geflohen. Frauen, Kinder, ältere Menschen. Sie flüchten mit nichts außer ihren Kleidern am Leib vor Tod und Zerstörung. Und werden mit offenen Armen und Herzen in den Nachbarländern aufgenommen.
Unglaublich die Solidarität und überwältigende Hilfsbereitschaft in ganz Europa. Besonders in Polen, Ungarn, Rumänien und der Slowakei. Ausgerechnet in den Ländern, die sich strikt weigern, Flüchtlinge aus Afghanistan, Syrien oder dem Irak aufzunehmen, überschlagen sich die Menschen vor Hilfsbereitschaft.
Das liegt hauptsächlich daran, dass diese Länder eine gemeinsame Geschichte und den gemeinsamen Feind in Russland haben. Besonders Polen und die Ukraine haben unter dem übermächtigen Nachbarn oft und schwer gelitten. Daher erscheint die überwältigende Hilfsbereitschaft in Polen wie eine Selbstverständlichkeit.
Problem Hautfarbe
Wird bei der polnischen Offenherzigkeit nicht mit zweierlei Maß gemessen? Diese Frage muss unbedingt gestellt werden. Da gibt es zum einen Medienberichte von afrikanischen GaststudentInnen, die aufgrund ihrer Hautfarbe an der polnischen Grenze abgewiesen worden sind.
Zum anderen hängen an der Grenze zu Belarus immer noch Menschen aus Afrika und dem Nahen Osten fest. Der belarussische Diktator hatte sie ins Land gelockt unter dem falschen Versprechen, sie würden in der Europäischen Gemeinschaft aufgenommen. Eine Lösung ist dort nicht in Sicht.
Menschen zweiter Klasse
Auch bei uns ist die Solidarität mit den Ukrainern überwältigend. Tausende spenden Geld, sammeln Kleider und Lebensmittel, packen Hilfspakete, stellen sogar Wohnungen zur Verfügung. Die Hilfsbereitschaft erinnert an die grandiose Willkommenskultur der ersten Wochen im Oktober 2015, als wie in München Tausende Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten im Nahen Osten ankamen.
Wie wir wissen, hat sich der Wind bald in Richtung Abschottung und Ablehnung gedreht. Jetzt, angesichts der Katastrophe in der Ukraine ist die Bereitschaft Flüchtlinge aufzunehmen, erneut überwältigend. Plötzlich ist fast alles möglich. Ukrainer brauchen keine Asylanträge stellen, erhalten einen Aufenthaltserlaubnis für ein Jahr, dürfen sofort arbeiten. Gibt es etwa Flüchtlinge erster und zweiter Klasse? Ein Schelm, der dabei Böses denkt.
Russen-Bashing
Wirklich böse und untragbar finde ich das Russen-Bashing. Anfeindungen von RussInnen auf offener Straße. Supermärkte, die russische Produkte aus den Regalen nehmen, russische Arbeitskollegen die einem Gesinnungstest unterzogen werden. Das geht gar nicht, das ist fasch. Diskriminierend und Sippenhaft.
Was kann das russische Volk für den Angriffskrieg gegen die Ukraine? Das ist allein Putins Krieg, und nicht der des russischen Volkes. Wir sehen täglich Bilder von DemonstrantInnen in Russland, die sich gegen Putin stellen. Sie gehen auf die Straße und demonstrieren, obwohl sie verprügelt und dafür schwer bestraft werden. Auch ihnen gebührt ungeteilte Solidarität.
Spektakulärer Beschluss
Der Irre im Kreml hat mit seinem Überall auf die Ukraine der westlichen Welt einen Schock versetzt. Sie reagiert jetzt hektisch mit vielerlei Maßnahmen. Verurteilungsbeschluss der Vereinten Nationen, massive wirtschaftliche Sanktionen, Waffenlieferung an die Ukraine und übersteigerte Aufrüstung in allen NATO-Mitgliedern. Das klingt nach Einigkeit, Entschlossenheit und Stärke.
Trotzdem bezweifele ich, dass sich der Autokrat Putin von seinen Ziel abhalten lässt, sich die Ukraine einzuverleiben. Bei aller Notwendigkeit, Putin die Zähne des Westens und der NATO zu zeigen, bleiben Fragen. Vor allem in Bezug auf den spektakulären Aufrüstungsbeschluss in Deutschland. Vorbereitet von einem inneren Kreis, beschlossen und sogar stehend bejubelt in einer Sondersitzung im Bundestag.
Militärischer Player
Was ist da passiert? Quasi über Nacht gehen ehernde politische und moralische Werte über Bord. Eine überraschende historische Kehrtwende. Jetzt ist möglich, was früher unvorstellbar war: Waffenlieferung in Kriegsgebiete, 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Aufrüstung der Bundeswehr und massive Anhebung des jährlichen Verteidigungsetats.
Putin hat das geschafft, was vorher unvorstellbar war. Er hat aus dem pazifistischen Deutschland (Ausnahme Jugoslawienkrieg) einen militärischen Player gemacht. Kurzfristig kann diese gigantische Aufrüstung den Menschen in der Ukraine nicht helfen. Und auch langfristig wirft die gigantische Aufrüstung Fragen auf.
Aufrüstungsspirale
Aufrüstung und Abschreckung darf nicht die alleinige Antwort für politische Konflikte sein. Militärische Drohgebärden bringen noch mehr Unsicherheit, noch mehr Gefahr. Es besteht das Risiko, dass sich eine Eigendynamik entwickelt, eine Rüstungsspirale, die unter Umständen nicht beherrschbar ist. Die Gefahr einer echten militärischen Konfrontation steigt. Das will niemand.
Es wird Zeit, wieder gegenseitiges Vertrauen herzustellen und vom Pfad der Eskalation herunter zu kommen. Das haben Reagan und Gorbatschow damals auch geschafft. Warum sollte es Biden, Scholz und Macron – und auch Putin nicht gelingen? Es gibt keine Alternative zu Ausgleich und Rüstungskontrolle, damit die Menschen in Frieden leben können!
Schluss mit Russen-Gas!
Explodierende Sprit- und Gaspreise, teuere Lebensmittel – die unmittelbaren Folgen von Putins Angriffskrieg in Deutschland. Jetzt droht Putin damit, die Gasversorgung durch Nordstream1 zu kappen. Wird er wohl nicht machen, denn damit schneidet er sich ins eigene Fleisch.
Kaum zu glauben, aber wahr: Trotz des Krieges in der Ukraine bezieht Europa weiterhin Öl und Gas aus Russland. Rund eine halbe Milliarde Euro: So viel überweist Europa Tag für Tag für Energie an Russland. Geld, mit dem der Kreml seinen Krieg in der Ukraine finanziert. Spitzenreiter sind wir. Fast die Hälfte unseres Gases stammt aus Russland. Eine perverse Situation. Wir liefern Waffen an die Ukraine, damit sie den russischen Aggressor bekämpfen kann, beziehen aber weiterhin Energie aus Russland.
Kann man das guten Gewissens ethisch und moralisch rechtfertigen? Nein, da ist sich eine Mehrheit der Deutschen sicher und spricht sich laut einer aktuellen Umfrage für einen Importstopp für Öl und Gas aus Russland aus. Kaum zu glauben angesichts des täglichen Gemeckers an deutschen Tankstellen.
Habeck bremst
Pikant: Ausgerechnet der grüne Wirtschaftsminister Habeck ist gegen einen Importstopp. In seiner Begründung klingt er wie ein waschechter Liberaler. Ein Embargo würde eine „schwere Wirtschaftskrise auslösen mit Unternehmenszusammenbrüchen und Arbeitslosigkeit.“
Wenn es um die Wirtschaft geht, gehen grüne Grundsätze wie der Schutz von Menschenrechten und das Völkerrecht schnell über Bord. Scheinheilig auch das Argument, dass ein Embargo vor allem die Ärmeren treffen. Klar, wir alle sind betroffen. Aber wenn wir es ernst meinen mit der Solidarität mit dem ukrainischen Volk, müssen wir da durch.
Verzicht muss sein
Das bedeutet, dass wir lernen müssen, mit horrenden Energiepreisen zu leben. Und das bedeutet ganz sicher Verzicht und Anstrengung. Und es bedeutetet vor allem: radikales Energiesparen für alle. Für Privathaushalte, Verwaltungen, Handel und Industrie.
Regierung und Wirtschaft müssen unverzüglich und rasch handeln: den Ausbau der erneuerbaren Energien inklusive Stromnetze und Speicher beschleunigen, bürokratische Hemmnisse abbauen, Gebäudesanierung vorantreiben und die Gasspeicher für den kommenden Winter auffüllen.
Gas und Öl müssen eben kurzfristig von woanders herkommen. Wenn auch zu den derzeit überteuerten Preisen. Ärmeren Haushalten muss die Regierung mit direkter Unterstützung unter die Arme greifen. Nur so können wir unser Gesicht wahren.
Falsche Debatte
Was allerdings überhaupt keinen Sinn macht, ist die derzeitige Diskussion über Atomstrom. Einige FDP-Politiker und Mephisto Söder kommen jetzt mit dem unsäglichen Vorschlag um die Ecke, Atomkraftwerke (Akw) länger laufen zu lassen. Sie wollen sogar stillgegelegte Meiler wieder auf Vordermann zu bringen, damit in Deutschland nicht die Lichter ausgehen. Welch ein Irrsinn! Neben den nicht kalkulierbaren Risiken dieser Hochtechnologie macht eine Renaissance der Atomkraft auch wirtschaftlich keinen Sinn.
Kein Ausstieg aus dem Ausstieg
Selbst die Energiekonzerne, die bislang mit Strom aus Atomanlagen gutes Geld verdient haben, winken ab. Kein Ausstieg aus dem Ausstieg. Für sie hat sich die Nutzung der Atomenergie für die Stromproduktion in Deutschland erledigt. Politisch und gesellschaftlich nicht mehr gewollt und mittlerweile nicht mehr konkurrenzfähig im Vergleich zu Strom aus erneuerbaren Energiequellen.
Die Energiekonzerne haben sich seit Jahren auf das mit der Bundesregierung vereinbare Ende der Laufzeiten aller Akws in Deutschland vorbereitet. In zehn Monaten gehen die letzten drei Akws, die noch im Betrieb sind, endgültig vom Netz. Das sind drei Meiler: Isar2 im bayerischen Niederaibach, Emsland in Lingen und das Akw Neckarwestheim2.
Atomstrom unrentabel
Dabei bleibt es, das Kapitel Atomstrom ist abgeschlossen, sagt beispielsweise der Pressesprecher des Energiekonzerns EON. Auch wenn jetzt der grüne Habeck die Rolle rückwärts wagen würde und die Regierung längere Laufzeiten beschließe, macht das keinen Sinn. Weder kurzfristig noch langfristig. Es würden neue Problem entstehen. Neuer Brennstoff für die Akws müsste her und neue Brennelemente. Uran, den Rohstoff für die Brennelemente, gibt es jedoch hauptsächlich in Russland und in Kasachstan. Oh Schreck! Keine Option.
Ungeheurer Aufwand
Dann die Brennelemente. Die müssen passgenau hergestellt werden für jeden einzelnen Reaktor. Fertigungs- und Lieferzeit bis zu zwei Jahren. Hinzu kommen weitere Probleme: neue aufwändige Sicherheitsüberprüfungen, fehlendes Fachpersonal und vor allem das Problem mit zusätzlich anfallendem Atommüll. Wohin mit ihm? Wer zahlt für Zwischen- und Endlagerung?
Alles in allem ein ungeheurer Aufwand, der selbstverständlich viel Geld kostet. Dieses Geld werden sich die Anlagenbetreiber anteilig von der Regierung und von uns holen. Fazit: Die Laufzeit für Akws zu verlängern ist unvernünftig und totaler Irrsinn.