Mai 2022 | 16. – 31. Mai

NRW: Wer schluckt die dickste Kröte? Kitas: Warum der Tarifabschluss eine Mogelpackung ist. Und: Warum das 9-Euro-Ticket ein Flop wird. Außerdem: Georgia O’Keefe und Tomi Ungerer, zwei Ausstellungsbesuche.

Inhaltsverzeichnis

Nichtwähler

Neben der Überraschung, dass Schwiegersohntyp Hendrik Wüst mit deutlichem Abstand Wahlsieger in NRW ist, gibt es eine weitere unerfreuliche Botschaft: nur 55 Prozent Wahlbeteiligung. Was bedeutet, fast die Hälfte der Wahlberechtigten ging nicht zur Wahl, zeigte den etablierten Parteien den Stinkefinger.

Warum ist die Abneigung, wählen zu gehen, so groß? Da sollte sich die Politik schleunigst Gedanken machen. Die, die nicht zu Wahl gehen, haben sich indes Gedanken gemacht, jedoch im negativen Sinne. Viele Menschen glauben, dass sich durch Wahlen sowieso nichts ändert. Eine bemerkenswerte Entwicklung.

Trotzdem: Das Wahlergebnis ist eindeutig. Wegen des grottenschlechten Abschneidens der SPD führt an einem grünen Bündnis mit der CDU kaum etwas vorbei. Natürlich könnte, wenn sich CDU und Grüne nicht einigen, auch die Looser-Partei SPD den Regierungschef stellen und eine Koalition mit den Grünen bilden.

Gretchenfrage

Allerdings dürfte das bei knapp zehn Prozentpunkten Abstand der SPD auf die Union den Wählern schwer zu vermitteln sein. Andererseits ist der Graben zwischen der bisherigen CDU-Politik und den ökologischen Vorstellungen der Grünen verdammt tief.

Da ist zum einen die Solardach-Pflicht für alle Gewerbegebäude und Neubauten. Die Grünen wollen sie, die CDU nicht. Die Konservativen beharren auf der Tausend-Meter-Abstandsregelung zwischen Windrädern und Wohnbebauung. Für die Grünen ein No-Go. Klimaschutz ist für sie Wahlkampfthema Nummer eins. Sie wollen massiven Windkraftausbau und dafür zwei Prozent der Landesfläche zur Verfügung stellen.

Da ist die große Frage, welche der beiden Parteien schluckt die dickere Kröte? Regieren um der Macht willen oder Klimaschutz? Das ist die Gretchenfrage für die Grünen. 

Vier freie Tage

Eltern können aufatmen. Keine geschlossenen Kitas mehr, keine ErzieherInnen-Streiks mehr. Gewerkschaften und kommunale Arbeitgeber haben sich letztendlich geeinigt. Vom 1. Juli an erhalten Beschäftigte in kommunalen Kitas 130, beziehungsweise 180 Euro mehr monatlich. Sowie zusätzlich zwei bis zu vier freie Tage. Das klingt auf den ersten Blick nach Erfolg für ErzieherInnen und SozialarbeiterInnen. Aber bei Lichte besehen, bleibt davon nicht viel übrig. Denn an den wirklichen Problemen ändert sich nichts.

Hauptproblem: das fehlende Personal. Was nützen zwei Entlastungstage, wenn die Personalsituation so eng ist, dass man gar nicht frei nehmen kann? Die Tariferhöhung bringt angesichts der galoppierenden Inflation noch weniger. Vor allem, da der Tarifvertrage sage und schreibe lange vier Jahre gelten soll. Da ist die Tariferhöhung so schnell aufgefressen, wie man gar nicht gucken kann.

Gefährdung der Sicherheit

Das fehlende Personal führt zu einer massiven Arbeitsbelastung der Beschäftigten. Zu wenige ErzieherInnen betreuen zu viele Kinder. Bei vielen ErzieherInnen liegen die Nerven blank. Das führt zu gefährlichen Situationen. „9000 Kitas konnten 2021 in Deutschland ihren Betrieb an mehr als jedem zweiten Tag nur unter Gefährdung der Sicherheit der zu betreuenden Kinder aufrechterhalten“, schätzt Udo Beckmann, Bundesvorsitzender des Verbandes Bildung und Erziehung.

Mit den geflüchteten Kindern aus der Ukraine kommt auf die Kitas eine weitere Herausforderung hinzu. Die oft traumatisierten Kinder benötigen besondere Zuwendung, die im Regelbetrieb nicht zu leisten ist. Es ist also dringend notwendig, mehr Personal für die Kitas zu finden. Das bedeutet vor allem, den ErzieherInnen-Beruf attraktiver zu machen.

Betreungsschlüssel

Die Tariferhöhung sowie die hart erkämpften zusätzlichen freien Tage könnten ein erster Schritt sein. Aber was immer noch fehlt, sind zwei Dinge. Erstens: eine schnellstmögliche Veränderung der Personalschlüssels. Es kann nicht sein, dass sich in Deutschland eine Erzieherin um 10 bis 14 Kinder kümmert. Island, Dänemark und Neuseeland haben dagegen eine Betreuungsquote von eins zu sechs in den Kitas. Zweitens: Der ErzieherInnen-Beruf muss gesellschaftlich mehr wertgeschätzt werden. Das fängt schon bei der Bezahlung an. Es ist nicht einzusehen, warum Erzieherinnen rund ein Drittel weniger verdienen als GrundschullehrerInnen.

Akademische Ausbildung

Damit sind wir bei der Ausbildung. Während in anderen Ländern Fachhochschulen und Universitäten ErzieherInnen ausbilden, sind es hier zu Lande lediglich die Fachschulen. Für die reicht ein Realschulabschluss. Jedoch klar ist, dass mit einer akademischen Ausbildung Attraktivität und Wertschätzung des Berufs steigen.

Voraussetzung ist allerdings mehr staatliche Investition. Bislang wendet Deutschland lediglich magere 0,66 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Kitas auf. Das ist zuwenig. Höhere Investitionen in frühkindliche Bildung lohnen sich. Sie sind schließlich der Grundstein für die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes.

Erfolg oder Flop?

Der Run ist überwältigend groß. Gleich am ersten Tag wurden etwa 56 000 Neun-Euro-Tickets in den ersten 24 Stunden beispielsweise beim Hamburger Verkehrsverbund verkauft. Die Internetseite der deutschen Bahn war wegen erhöhter Zugriffe teilweise sogar lahmgelegt. Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen geht davon, dass bis August 30 Millionen Tickets verkauft werden.

Endlich eine ÖPNV-Erfolgsgeschichte oder das größte Bahnchaos aller Zeiten? Das ist die große Frage beim Neun-Euro Ticket. Ziel des dreimonatigen Feldversuchs: Die Menschen vom ÖPNV überzeugen, so dass sie nach Ende der Aktion dabeibleiben und das Auto stehen lassen.

Nebenprodukt

Dabei ist das Ticket eigentlich nur ein Nebenprodukt im Entlastungspaket. Angesichts des großen Jammers über die Benzinpreise drückte die FDP-Porschepartei groß angelegte Benzinsubventionen durch. Für das ökologische Gewissen und weil die Nicht-AutofahrerInnen nicht in die Röhre gucken dürfen, kamen die Grünen auf die Idee des Neun-Euro-Tickets. Besser und sinnvoller für die angepeilte Klimawende wäre es, den Benzinpreis nicht zu subventionieren. Aber das ist mit der FDP genauso wenig zu machen wie ein Tempolimit.

Schwitzen in vollen Zügen

Für wen lohnt sich das Ticket, für wen nicht? Erstens: Es lohnt sich für Städter und Pendler, die auch bislang schon viel Bus und Bahn nutzen. Sie sparen mit dem Ticket. Allerdings müssen sie mit übervollen Zügen und Bussen rechnen, zumindest zu den Stoßzeiten. Zweitens: Wochendausflügler könnten profitieren sowie diejenigen, die gern mal mit dem Bummelzug nach Sylt oder in die Alpen fahren wollen. Da ist fraglich, wer sich das zumuten will: stundenlang schwitzen in übervollen Regionalzügen mit mutmaßlich ausgefallener Klimaanlage.

Schon jetzt warnen die Verkehrsunternehmen, dass vor allem an den Wochenenden und auf den üblichen Ausflugsrouten die Züge voll werden. Das klingt abturnend. Drittens: Auf dem Land macht das Ticket für Pendler überhaupt keinen Sinn. Wenn es überhaupt Busse oder Bahnen gibt, dann fahren sie zu selten und sind zu lange unterwegs. Auf dem Land sind die Menschen auf ihr Auto für fast jede Erledigung angewiesen.

Abschreckend

Ich fürchte, das Neun-Euro-Ticket wirkt eher abschreckend als nützlich. Schuld daran ist die unzulängliche Bus- und Bahn-Infrastruktur. Sie wird vermutlich unter dem Ansturm der Menschen zusammenbrechen. Die Bundesregierung hat es zwar gut gemeint mit dem kostengünstigen Schnellschuss. Aber sie hat das Pferd von hinten aufgesäumt.

Das verbilligte Ticket kann nur funktionieren, wenn das, was man dafür bekommt, attraktiv ist. Also ein ÖPNV, der folgende Kriterien erfüllt: zuverlässig, pünktlich, schnell, eng getaktet auch auf dem Land – und sauber. Davon ist der ÖPNV weit entfernt. Die von der Ampel zur Verfügung gestellten 2,5 Milliarden Euro wären besser in den Ausbau des Nahverkehrs investiert gewesen als in das Neun-Euro-Ticket.

Lieblingsvokabel

Kein Ende in Sicht im Ukrainekrieg. Im Gegenteil. Beide Kriegsparteien verbeißen sich in Schützengräben. Der blutige Krieg geht weiter. Zynisch finde ich, dass manche Medien für das, was jetzt passiert, unkritisch den militärischen Begriff Abnutzungskrieg übernehmen. Das klingt materiell, maschinell, unmenschlich. Dabei geht es doch um unzählige Menschen, die getötet werden oder verletzt werden. Nicht nur Soldaten, sondern auch Zivilpersonen. Sinnlose Opfer in einem sinnlosen Krieg.

Der ukrainische Präsident Selenski hat den Ausnahmezustand des Landes bis August verlängert. Noch mehr Tote, noch mehr Leid und Zerstörung. Das bedeutet für Kiews Verbündete in den USA und Europa, dass sie das Land noch lange mit Geld und Waffen unterstützen müssen. Mit hauptsächlich schweren Waffen, der derzeitigen Lieblingsvokabel in Politik und Medien.

Selbstdarsteller Merz

Es scheint, als ob schwere Waffen das Allheilmittel für den militärischen Widerstand der Ukraine gegen Putin wären. Wer Zweifel daran äußert, wie kürzlich prominente Intellektuelle, wird schnell als Feigling oder Schwächling in die Ecke gestellt. Ich gehe davon aus, dass Kanzler Scholz an bierseligen Stammtischen mit ähnlichen Attributen bedacht wird. Und jetzt fährt er nach Afrika und war immer noch nicht in Kiew.

Selbstdarsteller wie CDU-Merz werden ihm das sicherlich genüsslich aufs Butterbrot schmieren. Der konservative Oppositionsführer lässt keine Gelegenheit verstreichen, um dem Volk weiszumachen, dass er der bessere Kanzler wäre und das Land mit der CDU besser fahren würde. Ein armseliger Schauspieler. Gerade in Kriegszeiten sollte er sich an den Vorsatz halten: erst das Land, dann die Partei – und erst dann ich.

 

Scholz in Afrika

Die Reise von Scholz nach Afrika, genauer nach Senegal, Niger und Südafrika, finde ich ok, klug und vorausschauend. Es geht zwar vordergründig um die Folgen des Ukrainekriegs für Afrika. Um Hunger und wachsende Not wegen knapper werdender Lebensmittel. Politisch ein schwieriges Terrain.

Senegal und Südafrika gehören zu den Staaten, die sich bei der Abstimmung in der UNO-Generalversammlung enthalten haben, als es um die Verurteilung des russischen Angriffskriegs ging. Aber in der Hauptsache geht es um wirtschaftliche Interessen. Vor Senegals Küste liegt ein riesiges Erdgasfeld. Eine Anlage zur Herstellung von Flüssiggas ist in Bau. Beides hat Scholz fest im Blick.

Frischzellenkur

Noch interessanter scheint Südafrika. Das Land gilt als Pionier für die Herstellung von Wasserstoff. Aber in erster Linie geht es Scholz wohl um südafrikanische Steinkohle, die Deutschland allzu gern importieren würde.

Fossiles Gas und fossile Kohle aus Afrika? Ein heikles und schwieriges Thema für ein Land, das eigentlich so schnell wie möglich klimaneutral werden will. Es kommt jetzt darauf an, wie der dröge Kanzler den Sinn und Nutzen seiner Afrikareise kommuniziert. Seine emotions- und visionslose Perfomance bedarf dringend einer Frischzellenkur.

Georgia O’Keefe

Habe mal wieder eine Kunsttour unternommen. Nein, keine Malreise – sondern zwei Museumsbesuche. Erste Station: Fondation Beyerle im schweizerischen Riehen. Vor der Kasse bereits eine Warteschlange, obwohl es kurz nach zehn Uhr ist und die Ausstellung soeben geöffnet hat.

Wie immer bei Beyerle ein happiger Eintrittspreis: 25 Franken. Ausgestellt sind 85 Werke der US-Amerikanerin Georgia O’Keefe. Ein Querschnitt aus dem umfangreichen Werk der unkonventionellen Künstlerin. Von frühen abstakt-gegenständlichen Werken in Aquarell bis zu großformatigen Blüten- und Landschaftsbildern in Öl.

Surrealistisch

Mutig und ungewöhnlich: ihr frühes Aquarell, das einen geöffneten Zelteingang bei Nacht zeigt. Fantastisch und spektakulär: die monumentalen Darstellungen von aufplatzenden Blütenkelchen, die an weibliche Genitalien erinnern. Surrealistisch und romantisch: ihre bombastischen Steppen- und Gebirgsbilder der einzigartigen Landschaft im Norden New Mexikos. Dann wieder bizarr: die imposante Darstellung von sonnengebleichten Tierschädeln. Eine bewegende Ausstellung einer großen Künstlerin, die Abstraktion und Gegenständlichkeit in unkonventioneller Weise verbindet.

Tomi Ungerer

Das zweite Ziel, das Forum Würth in Arlesheim, ist per Rad nicht angenehm zu erreichen. Der Fahrradweg von Riehen bis zum Rhein ist noch ok. Die Rheinüberquerung über die Fußgängerbrücke am Kraftwerk Birsfelden auch noch. Aber dann regiert das Chaos. Eine Umleitung nach der anderen. Riesenbaustelle am St. Jakob-Stadion. Gesperrter Radweg, erneut Umleitung. Schmale Randstreifen für Radler an vielbefahrenen Straßen. Das Forum Würth in Arlesheim liegt im Industriegebiet.

Der Weg dorthin ist nicht ausgeschildert. Trotzdem ist es einen Besuch wert. Auf zwei Stockwerken präsentiert sich ein Querschnitt des vielseitigen Schaffens von Tomi Ungerer. Der französische Grafiker, Schriftstellers und Illustrator starb 2019. Großformatige Zitate des international bekannten Künstlers gliedern die einzelnen Themenfelder. Zum Beispiel: „Ich zeichne, was ich schreibe. Ich schreibe, was ich zeichne. Ich bin ein Aufzeichner.“

Beißender Spott

Gleich das erste Cartoon kennzeichnet den beißenden Spott des Künstlers: ein lachender Mann mit einem blauen Auge, Zahnlücken und Narben im Gesicht. Überschrift: „Mir geht’s gut.“ Zynisch und bitterböse geht’s weiter: Ungerer präsentiert in seiner „Beachparty“ eine Familie im Strandoutfit, der eine blutverschmierte Kinderleiche zu Füssen liegt.

Der Künstler geißelt Rassismus sowie den Vietnamkrieg der Amerikaner. In „Black Power/White Power“ isst ein weißer fratzenhafter Mann einen schwarzen Menschen auf. Ungerer lässt einen abgemagerten Vietnamesen den Hintern der Freiheitsstatue lecken und US-Bomber Napalm und Care-Pakete gleichzeitig abwerfen.

Erotik und Tod

Nicht ganz jugendfrei sind seine erotischen Bildserien, in denen er die New Yorker Schickeria buchstäblich bloß stellt. Tod und Erotik gehören für Ungerer zusammen, etwa in den Sexszenen zwischen Skeletten und nackten aufreizenden Frauen seiner Totentanz-Tuschezeichnungen.

Es gibt auch nette und liebliche Themen, etwa die romantischen Illustrationen im „Großen Liederbuch, der Klassiker mit deutschen Volks- und Kinderliedern. Oder die Katzenzeichnungen, die Ungerer für Einkaufstüten des Züricher Globus-Kaufhaus entworfen hat. Im Großen und Ganzen überwiegt der gesellschaftskritische Zynismus. Keine leichte Kost.

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