Das Prinzip „Bloß nicht weh tun“ hat die Wahl gewonnen. Die Grünen sind abgeschifft. Tragen wir Alten Schuld daran? Warum wählen ab 16 Jahren jetzt wichtig wird. Außerdem: Malferien in Frankreich: Stier-Hatz, Anti-Corona-Demo vor dem Papstpalast in Avignon.
Inhaltsverzeichnis
Ernüchterung
Dumm gelaufen: Die Linke kommt mit Ach und Krach in den Bundestag – dank dreier gewonnener Direktmandate. Die Grünen abgeschlagen auf Platz drei. Obwohl die Wahl im vollen Bewusstsein der Klimakrise stattfand, fällt die grüne Bilanz ernüchternd aus. Wie konnte das passieren?
Sicherlich haben der unprofessionelle Wahlkampf und die fatalen Fehler Baerbocks zum schwachen Abschneiden beigetragen. Aber entscheidend sind wohl eher Angst und Bequemlichkeit der Wähler. Vor allem die der älteren Generation, der mit Abstand größten Wählergruppe.
Ignorante Heuchelei
Die über 60jährigen sind sich zwar der Bedrohlichkeit der Klimakrise bewusst, doch bei ihnen überwiegt große Furcht vor tiefgreifenden Veränderungen, Einschränkungen und höheren Kosten in ihrer gewohnten Welt. Bequemlichkeit, gepaart mit Wegschauen, weil viele auf die liebgewonnen Konsumgewohnheiten nicht verzichten wollen.
Sie setzen deshalb das Kreuz bei den traditionellen Parteien CDU, SPD und FDP, die mehr oder weniger alle drei versprechen, die Bürger mit Belastungen zu verschonen. Kurskorrekturen ja, Reformen vielleicht auch, aber nur klitzekleine. Im Wesentlichen weiter so wie bisher. Hauptsache, es tut nicht weh. Welch ignorante Heuchelei!
Wahlalter runter
Es ist die junge Generation, die die Folgen der Ignoranz und des politischen Herumwurstelns ausbaden muss. Aber die Jungen wehren sich. Das zeigt der ungebrochene Protest von Fridays für Future, wo Zehntausende für Generationengerechtigkeit und konsequenten Klimaschutz demonstrieren.
Die Bundestagswahl wäre ganz anders ausgefallen, wenn die überwiegend jugendlichen Fridays für Future-TeilnehmerInnen wählen dürften. Es geht schließlich um ihre Zukunft. Deshalb ist es dingend erforderlich, das Wahlalter auf 16 herabzusetzen.
Nun stehen Koalitionsverhandlungen an. Möglich, aber nur schwer zu verstehen wäre es, würde Looser-Laschet der nächste Kanzler. Es bleibt zu hoffen, dass das kleinere Übel, die Scholz-Ampel, sich durchsetzt und die Grünen nicht allzu viele Lindner-Kröten schlucken müssen.
Diesel-Schienenbus
Anderes, erbaulicheres Thema: Meine Reise nach Avignon zum Malkurs, bzw. in ein Village namens Boulbon. Mit dem TGV von Mulhouse in Frankreich nach Avignon, logo. Erste Überraschung in Müllheim, wo ich Richtung Mulhouse umsteigen soll. Umsteigezeit 5 Minuten. Zum Bahnsteig 4, wo der Zug abfährt, sind es etwa 800 Meter zu laufen. Tempo ist angesagt.
Außer mir fährt nur ein Passagier mit in dem Zug, der kein Zug ist, sondern ein Diesel-Schienenbus. Lautstark brummend rumpelt das blaue Ungetüm durch den Auewald der Rheinebene. Mit Halt im elsässischen Bantzenheim.
Kurz vor Mulhouse wundere ich mich über zwei ellenlange Güterzuge, die voll beladen mit Peugeot-Autos sind. Mir ist bekannt, dass sich in Mulhouse eine große Peugeot-Citroën Produktionsstätte befindet. Wer will diese Menge verdammter Verbrenner-Autos kaufen? Deren Zeit ist vorbei, bzw. wird in Kürze ablaufen.
Solardächer
80 Minuten Umsteigezeit in Mulhouse. Ich bin mit einem Kollegen aus meiner Zeit am Gymnasium in Lörrach verabredet. Kaffee und Kuchen in seinem Haus. Dieter ist in einer Genossenschaft engagiert, die im Atomland Frankreich Solarzellen auf die Hausdächer bringt. Finde ich gut.
Ohne Umzusteigen geht’s bis Avignon. in Frankreich dürfen nur Genesene und Geimpfte mit dem TGV fahren. Es werden jedoch nur die Fahrkarten kontrolliert. Der Impfnachweis nicht. Das ist anders in den Restaurants und Cafes, wie ich in Boulbon und Avignon später selbst erlebe. Da scannt der Chef du Restaurant den Qr-Code auf der App höchstpersönlich. Kein Wunder, dass er aufpasst. Bei Verfehlungen drohen ihm Strafen in Höhe von 10 000 Euro und sein Restaurant machen die Behörden zu.
Pastellkreide
In Avignon holt mich Kursleiter Ingo Hoffmann vom Bahnhof ab. 15 Minuten mit dem Auto nach Boulbon. Ein pittoreskes Dorf mit etwa 1000 Einwohnern, etwa fünf Kilometer von der Rhone entfernt. Kopfsteinpflaster, 1 Restaurant, 2 Cafes, 1 Boulangerie, 1 Lebensmittelladen, 2 Kirchen. Enge, verwinkelte Gassen, die am Fuße des Montagnette-Höhenzugs den Hang hinauf klettern.
Abendessen auf der Terrasse, die zum Ateliers des Künstlers gehört. Wunderbare Aussicht auf das Dorf. In der Ferne glitzert die Rhone. Am nächsten Tag geht’s gleich in die Landschaft. Malobjekt ist eine Kapelle. Die Aufgabe: sich mit Pastellkreide flächig dem Objekt nähern. Mir liegt die Arbeit mit Pastellkreide nicht, bewältige gleichwohl die Aufgabe. Anschließend skizziere ich das gleiche Motiv noch mal mit Fineliner. Gefällt mir besser und Ingo auch
Tür fehlt
Das Zimmer in dem ich in Boulbon wohne, misst etwa 20 Quadratmeter. Bad und Toilette sind im gleichen Raum, abgetrennt durch einen Mauervorsprung. Tür Fehlanzeige. Sehr gewöhnungsbedürftig. Genauso wie der Umstand, dass der Hausherr deutlich zu verstehen gibt, dass Küchenbenutzung tabu ist.
Auch nicht erfreulich: das äußerst schwache und immer wieder kurzzeitig aussetzende Internet. Das gilt übrigens für das ganze Dorf. Um sich fürs Wlan anzumelden, sind sage und schreibe 26 Ziffern und Buchstaben nötig. Da ist höchschte Konzentration gefragt, wie Jogi Löw treffend sagen würde.
Die Mängel in meinem Zimmer macht der riesige Garten meines Gastgebers wett. Olivenbäume, Oleander und andere mediterrane Gewächse streicheln die Seele und geben mir ein Gefühl von Ruhe und Entspannung. Das Frühstück leider typisch französisch: Baguette und Marmelade. Aber auf meine Bitte gibt’s wenigstens Schinken.
Alte Platane
Mittags: Plat du jour im Cafe du Commerce am Marktplatz. Mir gefällt es dort. Eine riesige alte Platane, überdimensionale Sonnenschirme, Blick auf traditionelle Steinhäuser, in der Ferne winken die Hügel der Montagnette. Ich fertige eine Skizze an. Das fällt offenbar auf.
Am nächsten Tag bin ich wieder da. Die junge Kellnerin fragt, ob sie die Zeichnung, die ich gestern gemacht habe, sehen kann. Sie lobt die Skizze, andere Gäste im Saal werden aufmerksam, wollen mein kleines Werk auch sehen. Kleine nette Gespräche folgen. Habe ich so in Deutschland noch nicht erlebt.
Stier-Hatz
Was ich auch noch nie erlebt habe, ist ein Stierfest. Es gibt in Boulbon einen Stierclub, wie in den Orten in der Umgebung auch. Was so ein Club das ganze Jahr über macht, ist mir schleierhaft. Aber offenbar ist der Höhepunkt des Jahres ein sogenanntes Stierfest. Eher eine Stierhatz, wie mir später klar wird.
Am Freitagnachmittag ist plötzlich die Durchgangsstraße von zwei Seiten mit mächtigen Gittern abgesperrt. Es entsteht eine Art Arena. Schon Tage zuvor weisen Schilder darauf hin, dass hier am Freitag keine Autos geparkt werden dürfen. Ein Kanonendonner signalisiert den Beginn der Hatz. Von der Ladefläche eines LKWs stürmt ein Stier heraus, rast in de Arena.
Junge Franzosen, männlich, stellen sich ihm in den Weg, springen im letzten Moment zur Seite. Der Stier stürmt zum anderen Ende der Arena und wieder zurück in den Lkw. Es folgt ein Tier nach dem anderen. Einige der Jungen haben rote Hosen an. Andere schwenken Tücher direkt vor den Hörnern der Stiere, um die Tiere zu reizen. Wie verrückt ist das denn?
Tierquälerei?
Ich frage einen Franzosen, ob das nicht Tierquälerei sei. Er schaut mich nur lachend an. „Naja“, sagt er. „Das ist doch ein Spiel. Das macht auch den Stieren Spaß.“ Da bin ich mir nicht so sicher.
Drei Tage lang dauert das Fest. Jeweils ab Mittags gibt’s auf von einer eigens aufgebauten Bühne Rockmusik, im Cafe Bier, Wein und Tanz bis spät in die Nacht. Die dröhnenden Bässe sind selbst in den umliegenden Bergen des Montagnette zu hören. Der Samstagmittag gehört den volkstümlichen Klängen. Musikkapellen in traditioneller Tracht marschieren durchs Dorf. Traditionell auch die Pferdekutschen, die von den Zuschauern begeistert beklatscht werden. Anschließend steigt erneut eine Party im Cafe.
Palais du Pape
Ausflug nach Avignon. Papststadt. Stadt von „Sur le pont d’Avignon“, dem Liedchen, mit dem fast jeder Schüler im Musik- oder Französischunterricht gequält worden ist. Vor dem imposanten Papstpalast, dem Palais du Pape, tummelt das pralle Leben. Cafe, Bars in Hülle und Fülle. Irre viele Menschen.
Aus den fest installierten Lautsprechern kommt regelmäßig die Aufforderung, Masken zu tragen. Daran hält sich niemand. Ein Clown zeigt akrobatische Kunst, eine Straßenmusikerin spielt Countrymusik auf Französisch. Durchaus hörbar.
Vor dem Papstpalast eine Menschenschlange. Alle warten darauf, ins historische Allerheilige zu gelangen. In der kurzen Zeitspanne Ende des 14. Jahrhunderts war Avignon als Stadt der Päpste und Gegen-Päpste der Nabel der mittelalterlichen Welt. Die Wartenden von dem Einlassportal tragen brav Masken.
Demo gegen Macron
Die Countrysängerin hat sich längst verabschiedet. Querdenker und Maskenverweigerer haben inzwischen den Platz eingenommen. Sie demonstrieren lautstark gegen die Coronamaßnahmen der Regierung Macrons, die ihrer Meinung nach das Freiheitsgefühl der Franzosen mit Füßen tritt.
Viele der etwa 200 Menschen schwenken die Trikolore. Die Marseillaise erklingt. Unter den vielen Rednern ist unter anderem eine Krankenpflegerin. Sie beklagt sich mit markigen Worten darüber, dass sie gerade von ihrer Arbeit suspendiert wurde. „Ungerecht. Diktatur“, schimpft sie.
Der Druck wirkt
Die Rednerin gehört zu den etwa 3000 Beschäftigten im Gesundheitsdienst, die seit dem 15. September nicht mehr in ihrem Job arbeiten dürfen, weil sie nicht geimpft sind. Eine gesetzliche Maßnahme, mit der die Französische Regierung die Impfquote in Frankreich erhöhen will. Der Druck scheint zu wirken.
Trotz der vielfältigen Proteste wie in Avignon steigt der Anteil der Menschen mit doppelter Impfung auf gegenwärtig 70 %. Ich habe es nicht in die heiligen Hallen geschafft, pünktlich um 17 Uhr schloss der Papstpalast seine Pforte. Kein Erbarmen – trotz der vereinzelt inbrünstigen Bitten der Wartenden, doch noch eingelassen zu werden.
Blinde Wut
Schockiert bin ich vom Mord an dem Tankstellen-Kassierer in Idar-Oberstein. Das Attentat macht auch in Frankreich Schlagzeilen. Wie tief sitzt der Spaltpilz in unserer Gesellschaft, dass jetzt schon Corona-Leugner zu Mördern werden? Offenbar sind mittlerweile Hass und blinde Wut von Corona-Leugnern und Verschwörungstheoretikern so groß, dass sie daraus ein militantes Widerstandrecht ableiten.
Die schlimmen Folgen: Die Bluttat von Idar-Oberstein zeigt, dass es möglicherweise jeden treffen kann. Denn wer wie der junge Kassierer auf die geltenden Coronaregeln hinweist, könnte von einem durchgeknalllten und militanten Maskenverweigerer für einen Vollstrecker des sogenannten Unrechtsstaates gehalten werden.
Rote Karte
Da muss man sich in Zukunft zweimal überlegen, ob man Maskenverweiger in Bus oder Bahn höflich an die geltenden Corona-Regeln erinnert. Gleichzeitig offenbart sich einmal mehr das Versagen von Politik und Justiz.
Zu lange wurde unterschätzt, wie bedrohlich Hetze von Verschwörungstheoretikern und rechtsextremistisches Gedankengut sind. Die Regierung hat die Gefahr stets heruntergespielt. Das rächt sich jetzt. Es ist dringend Zeit zu handeln und gewaltbereiten Extremisten die rote Karte zu zeigen.