Jahresrückblick und Ausblick 2024: Von wegen kranker Mann Europas. Warum es in Deutschland keinen Grund zum Jammern gibt, sondern viel Anlass für Zuversicht. Rechtsruck: Warum es nicht die Migranten sind, die daran Schuld sind. Schmerztherapie an der Uniklinik: Warum ich sie abgebrochen habe.
Hinterlasst gerne eure Kommentare unter dem Blogpost.
Um zu den Kommentaren zu scrollen: Hier klicken
Inhaltsverzeichnis
Katerstimmung
Weihnachten ist vorbei. Das Jahr geht zu Ende. Aber statt Zuversicht für 2024 höre ich überall Unkenrufe und Gejammer. Jeder zweite Deutsche hält nach den jüngsten Umfragen die Stimmung im Land für schlecht und schaut pessimistisch in die Zukunft.
Von dieser Katerstimmung habe ich die Schnauze voll. Ich will nicht mitnörgeln, obwohl das Jammern und Motzen irgendwie zur DNA von uns Deutschen gehört. Wir sind eher Miesepeter statt Frohnaturen und extrem zwiespältig. Großspurig, gernegroß was unsere angeblichen Stärken betrifft wie die vermeintliche Vorreiterrolle beim Klimaschutz oder bei der Ingenieurskunst.
Aber wehe, wenn uns die Realität auf den Boden der Tatsachen zurückholt und dann noch Krisen und Kriege hinzukommen. Dann sind wir plötzlich klein mit Hut.
Sadomaso
Und Wehklagen und Gejammer bricht sich Bahn. Alles wird herabgewürdigt und niedergemacht, oft mit Häme und mit verabscheuenswürdigem Sadomachismus. Selbst der Wirtschaftsstandort Deutschland wird schlecht geredet. Verlierer-Nation, kranker Mann Europas. Dabei stimmt das gar nicht. Man muss nur die Zahlen richtig lesen.
Deutschlands Wirtschaft geht es gar nicht so schlecht – trotz Krisen, Kriegen, Inflation und Lieferengpässen. Nach Schätzung der Bundesbank haben die Unternehmen 2023 bei uns fast zwei Prozent mehr investiert als davor – nicht weniger. Und die deutsche Industrie hat 2023 kaum weniger produziert als die Jahre davor. Ja, weniger exportiert, das stimmt, aber dafür auch weniger importiert.
Jetzt, am Jahresende verzeichnen wir sogar einen Leistungsbilanz-Überschuss von immerhin 6,7 Prozent. Selbst die zu Jahresbeginn 2023 exorbitant hohe Inflation ist auf erträgliche 3 % abgeflaut.
Brandanschläge
Eigentlich ein Grund, zuversichtlich und mutig in die Zukunft zu schauen. Aber nein, wir Deutschen verharren in der Miesepeter-Rolle, glauben nicht an Verbesserungen, haben Angst vor Veränderungen, wollen den Status quo erhalten und blicken mit verklärtem Blick zurück in die Vergangenheit. Früher war alles besser? Unsinn!
Man denke nur an die 80er und 90er Jahre. Die bleiernde Zeit der 80er, hohe Arbeitslosigkeit. RAf-Terror, zwei deutsche Staaten. Die Welt gespalten in zwei feindliche Blöcke, hochgerüstet mit Atomraketen.
Die 90er Jahre waren auch nicht gerade friedlich. Krieg vor der Haustür, in Jugoslawien. Bei uns Brandanschläge auf Asylbewerberheime, so in Hoyerswerda. Und sogar tödliche Brandanschläge auf türkische Mitbürger in Mölln und Solingen. Das soll besser gewesen sein?!
Errungenschaften
Und heute? Von Arbeitslosigkeit keine Spur. Im Gegenteil. Die Wirtschaft sucht händeringend Arbeitskräfte, die Lebenserwartung ist gestiegen, mehr Frauen in den Vorstandsetagen, fantastische Fortschritte in der Medizin beim Kampf gegen Aids und Krebs.
Deutsche Wissenschaftler waren es, die den entscheidenden Impfstoff gegen die Corona- Pandemie entwickelten. Weitere Errungenschaften: Digitalisierung, KI und Chat GPT, die das Zeug haben, Schulen, Wissenschaft, Verwaltung und Industrie zu revolutionieren.
Für mich der wichtigste Lichtblick, auch wenn es nur ein minimaler Schritt ist: der Einstieg in das dekarbonisierte Zeitalter ist geschafft. Trotz Geburtswehen und Widerstand der ewig Gestrigen. Trotz Zoff über die Abschaltung der Atomkraftwerke oder das Hauen und Stechen über das Heizungsgesetz.
Grüne lernen
Jeden Tag entstehen mehr Windrotoren, mehr Solardächer und -Anlagen. Immer mehr Wärmepumpen werden eingebaut. Alles ist kleinschrittig, geht noch zu langsam voran und ist oft zäh und mühselig gegen Bürokratie und Amtsschimmel durchzusetzen. Aber es geht voran.
Auch in den Köpfen der Grünen, denen alles nicht schnell genug geht, hat sich etwas verändert. Sie haben gelernt, dass viele Deutsche Angst vor Veränderungen haben, dass es uns Deutschen schwerfällt, auf etwas zu verzichten.
Und dass viele überzeugt werden wollen, dass Klimaschutz etwas Gutes ist, was ihnen nicht weh tut. Und dass sie dabei nicht verlieren, sondern etwas gewinnen: saubere Luft, intakte Natur, eine stressfreie und lebenswertere Perspektive.
Also: Die Lage ist gar nicht so schlecht, und die Aussichten sind gut. Es gibt nur schlechte Stimmung, die mit Zuversicht und Überzeugungskraft verbessert werden kann – und muss.
Rechtsruck
Noch mehr Abschieben. Ständige Grenzkontrollen. Asylüberprüfung an Europas Grenzen. Fast alle bürgerlichen Politiker, egal ob CDU, FDP, SPD oder Grüne, klingen mittlerweile wie Rechtsextreme der AFD. Aber die Strategie, so den Rechtsruck zu stoppen, indem man ins gleiche Horn stößt wie die AFD, bringt nichts.
Im Gegenteil, die Menschen wählen lieber das Original als die Kopie. Und die Politiker, die jetzt auch noch allen Ernstes behaupten, die unkontrollierte Migration sei Schuld am Rechtsruck in Deutschland, machen es sich sehr einfach. Es ist Unsinn und kontraproduktiv zu behaupten, die Rechten gewinnen, weil zu viele Ausländer im Land seien.
Konzept fehlt
Damit lenkt die bürgerliche Politik von den Ursachen ab. Mehr noch, indem sie die Migration als Wurzel allen Übels ausmachen, schiebt sie ihre Verantwortung und eigene Fehler beiseite. Wäre frühzeitig ein umfassendes Konzept entwickelt worden für Integration und Versorgung der Asylbewerber, wäre die rassistische Kampagne der AFD weitgehend ins Leere gelaufen.
Aber weder die große Koalition noch die Ampel hat aus der sogenannten ersten Flüchtlingswelle gelernt. Immer noch lässt man Kommunen und Landkreise allein. Sie müssen mit Unterbringung, Versorgung und Integration allein fertig zu werden.
Wahre Ursachen
Kommunen können mit ihren klammen Kassen gar nichts anderes als Flickschusterei betreiben. Fehlendes bundesweites Konzept, fehlende Wohnungen, fehlende Kitas, fehlende ErzieherInnen und LehrerInnen. Das sind wahren Ursachen dafür, dass fast die Hälfte der Kommunen überlastet sind.
Über diese Missstände haben die Bürger und Bürgerinnen schon lange Grund genug wütend und sauer zu sein. Das ist auch legitim. Wer aber die Menschen, die zu uns kommen, allein für die Fehlerentwicklung verantwortlich macht, der schürt Ressentiments und betreibt das Geschäft des Rassismus.
Schmerztherapie
Ich leide immer noch unter Dauerschmerzen an den Pobacken. Das Gehen fällt mir immer noch schwer. Und ich werde zunehmend frustrierter und reizbarer. Trotz monatelanger Behandlung keine Linderung der Schmerzen. Weder Physiotherapie, Osteopathie und Stoßwellentherapie haben eine positive Änderung gebracht.
Meine Ärzte und Physiotherapeuten sind sich uneinig. Niemand kann genau sagen, woher die Schmerzen kommen, niemand kann eine exakte Diagnose stellen. Große Hoffnungen und Erwartungen habe ich in das Schmerzzentrum an der Uniklinik Freiburg gesetzt.
Das bietet eine dreiwöchige ambulante Schmerztherapie an. Multimodal und interdisziplinär soll sie sein. Täglich von 8 bis 15 Uhr soll mein Problem von allen Seiten beleuchtet und behandelt werden.
Hoffnung enttäuscht
Minimalziel: ein erträglicher Umgang mit meinen Schmerzen. Maximalziel: Herausfinden der Ursache. Doch leider hält die Schmerztherapie nicht, was sie verspricht. Nach drei Tagen breche ich enttäuscht und frustriert die Therapie ab. Ich habe nicht das Gefühl, dass sie mir hilft.
Die Gründe: Zuviel Theorie, vor allem nutzlose. Zu wenig Übungen, zu wenig Praxis. Von wegen multimodal: Weder Stoßwellentherapie noch chiropraktische Untersuchungen noch invasive Methoden werden angeboten. Eine halbe Stunde Physiotherapie pro Tag – das ist zu mager.
Datenabgleich
Der Therapie-Start beginnt mit Warten, wie immer an der Uniklinik. Termin ist 7.30 Uhr. Vor der der Anmeldung warten bereits sieben Personen. Geduld ist angesagt. Viel Geduld. Offenbar benötigt die Aufnahmeprozedur bei manchen Patienten viel Zeit. Was ich nicht verstehe.
Soweit ich weiß, hat jeder Patient bereits mehrere Wochen zuvor ein Assessment durchlaufen. Dort gibt es eine gründliche Vorbereitungs-Untersuchung, alle relevanten Daten werden erhoben, alle relevanten Unterlagen eingescannt. Trotzdem, es dauert und dauert heute. 8.15 Uhr, ich bin dran. Zum Glück geht es schnell. Abgleich der Daten. Unterschrift. Ich bekomme eine Mappe in die Hand. Mit der gehe ich zum Pflegestützpunkt, übergebe die Mappe, bekomme im Gegenzug den ausgedruckten Wochenplan.
Pacing
Ein Pfleger begleitet mich in den Gruppenraum, stellt mich den anderen sieben Patienten vor. Gruppensitzungen, Gruppengespräche sind die Schwerpunkte der Schmerztherapie, wie ich später erfahre. Zum wiederholten Male fülle ich einen Fragebogen aus. Und anschließend die gleiche Prozedur noch mal, diesmal immerhin auf dem Tablett – mit mehr oder weniger detaillierten Fragen.
Dann Visite bei der Stationsärztin. Gründliche Untersuchung. Sie ist gut vorbereitet, weiß über die Operationen und meinen Krankheitsverlauf Bescheid. Nächster Termin: Gruppensitzung mit einem Psychologen. Er erklärt Pacing. Wenn man so will, eine Art Zauberformel.
Pacing ist der Dreh und Angelpunkt in der Freiburger Schmerztherapie. Das zentrale Verhaltensmuster, das die Patienten erlernen und ihr Leben darauf einrichten sollen. Im Grund genommen ist das nicht anderes, als die richtige Balance zu finden zwischen Überbelastung bei täglichen Übungen und dem eigenen Vermeidungsverhalten.
Schaubilder und Langeweile
Der Psychologe versucht mit Hilfe eines Schaubilds auf dem Flip-Chart das Phänomen Pacing noch anschaulicher zu machen. Kommt mir alles sehr vertraut vor, kenne ich aus dem Sportstudium. Ein ähnliches Pacing-Schaubild zeigt am nächsten Tag eine Krankengymnastin in der Gruppensitzung, die auch den Titel Pacing trägt. Mein Frust steigt.
Ich habe mir unter Pacing vorgestellt, dass man Übungen macht, um zu lernen, wie man das eigene Schmerz- beziehungsweise Vermeidungsverhalten reguliert. Aber offenbar ist Theorie hier wichtiger als die Praxis. Überhaupt die Praxis. Ich staune nicht schlecht, als ich meinen Wochenplan genauer anschaue. Eine theoretische Gruppensitzung jagt die andere.
Und es gibt klaffende Lücken im Wochenplan. Teilweise zwei Stunden, in denen kein Programm, keine Anwendung für mich vorgesehen ist. Zeiten der Entspannung sind wichtig, erklärt mir sibyllinisch die Stationsärztin auf Nachfragen. Für mich eher Zeiten der Langeweile.
Zu wenig Physiotherapie
Große Hoffnung setze ich in die Physiotherapie. Es ist pro Tag leider nur eine halbe Sunde vorgesehen, jeweils bei wechselnden Therapeuten. Die Behandlung bei den beiden Therapeuten ist ok, hätte gerne mehr davon. Gerne auch mehr Übungen an Geräten.
Aber das praktische Programm ist erschreckend minimal. Im Verhältnis dazu sind die theoretischen Veranstaltungen überbordend. Und dann diese Inhalte! Zum Beispiel: Wie stelle ich einen Renten- oder Rehabilitationsantrag. Das ist das Thema, das eine Sozialarbeiterin in der sozialpädagogischen Gruppensitzung am zweiten Tag anbietet.
Und ich frage mich, was soll das und was soll ich da? Ich beziehe doch schon Rente und Reha-Anträge stellen Ärzte beziehungsweise die Institutionen.
Unflexibel
Als in einer weiteren Gruppensitzung erneut Pacing das Thema ist, reicht es mir. Bei der nächsten Arzt-Visite bringe ich meine Unzufriedenheit mit dem Therapieprogramm zum Ausdruck. Ich frage, warum die Schmerztherapie so theorielastig ist und ob es möglich ist, das Programm auf meine individuellen Probleme einzustellen.
Antwort: das geht nicht. Festes Programm, abgesprochen und abgesegnet mit und von den Krankenkassen. Überdies nachgewiesenermaßen sehr erfolgreich. Man müsse sich nur drauf einlassen.
Genauso argumentiert später die leitende Ärztin der Schmerzzentrums. Spätestens da ist für mich klar. Schluss aus. Abbruch der Schmerztherapie. Die Suche nach neuen Hilfen beginnt erneut.
Eine Antwort
Die ungesteuerte Migration Deutschlands ist keinesfalls unser drängendstes Problem. Da hast du Recht. Es ist ein Ablenkungsthema, das die AFD geschickt medial und politisch ausgenutzt. Die angeblich mit Migration verknüpften Schwierigkeiten wie Wohnungsmangel oder verrottete Schulen bestehen natürlich auch ohne Zuwanderung. Und das seit langem. Das sind die wahren Probleme. Das muss angepackt werden. Trotzdem ist es richtig, dass wir jetzt schärfer an den Grenzen kontrollieren. Wir können nicht jeden aufnehmen, der zu uns will. Unser Herz ist weit, aber unsere Möglichkeiten sind endlich. Da hat Alt-Bundespräsident Gauck Recht.