Juni 2024| 1. – 14. Juni

Europawahl: Warum junge Menschen auf die AfD stehen und die Grünen nicht mehr lieb haben. Mannheimer Attentäter: Warum Abschieben keine Lösung ist. Justitia: Warum zwei kürzlich gefällte Urteile zu den Freiheitsrechten wohltuend sind.


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Inhaltsverzeichnis

Europa-Wahl

Scheiße, Scheiße! Ganz Europa rückt nach rechts. Lichtblick nur in Polen und Skandinavien. Ansonst gewinnen überall rechtsextreme Parteien oder legen gewaltig zu. Und bei uns? AfD bundesweit zweitstärkste Kraft hinter der CDU, im Osten gar total an der Spitze. 

Klar kann man sagen: Das war nur Europawahl und den meisten geht Europa am Arsch vorbei. Trotzdem war es eine bundesweite Abstimmung und kann deshalb durchaus als Gradmesser für die aktuelle Stimmung dienen. Und die sieht Scheiße aus. 

Eine Haudrauf-Stimmung, die sich gegen alles richtet, was irgendwie nach Öko, sozial oder gar links aussieht. Ausgerechnet junge Menschen zwischen 16 und 24 Jahren machen ihr Kreuz vorwiegend bei den Ewig-Gestrigen von der CDU und der rechtsextremen AFD.

AfD statt Grüne

Was geht da in den Köpfen vor? Noch vor zwei Jahren trieben Schüler und Studenten die etablierten Parteien mit den Fridays for Future-Demos vor sich her. Die Grünen erlebten einen Höhenflug. Und jetzt werden sie abgestraft. Was ist passiert? 

Was geht da in den Köpfen vor? Wie kann es angehen, eine Partei zu wählen wie die AFD, die den Klimawandel leugnet? Und das ausgerechnet wenige Tage nach der verheerenden Hochwasserkatastrophe in Bayern und Baden-Württemberg. 

Wie kann es angehen, eine offen rassistische Partei zu wählen, die Millionen Menschen nichtdeutscher Herkunft vertreiben will? Vor wenigen Wochen noch gingen Tausende gegen die AfD auf die Straße. 

Jetzt geben viele offen zu, genau diese Partei gewählt haben. Dass die AfD als rechtsextrem gilt und vom Verfassungsschutz beobachtet wird, ist für viele kein Problem. Manche wählen sie gerade deswegen. Ich verstehe das nicht.

 

Ausnahme Freiburg

Ich kann nur annehmen, dass die Beweggründe, die AFD zu wählen, diffus und vielschichtig sind. Extreme Verunsicherung, Angst vor sozialem Abstieg, vor Krieg, keine Wohnung und Angst vor der Zukunft. Darin mischt sich die Angst vor Veränderung und das Gefühl, nicht wahrgenommen und abgehängt zu werden. 

Dazu kommen: kein Vertrauen in die Ampelregierung, Enttäuschung über die wankelmütige und widerprüchliche Politik der Grünen – und die gesteigerte Lust daran, es denen „da oben“ mal richtig zu zeigen. Zuvorderst den Grünen, die zum Symbol für alles Schlechte und zum Feindbild geworden sind. 

Eine der wenigen Ausnahmen: Freiburg, wo die Ökopartei sowohl bei der Europawahl wie bei der Kommunalwahl mit knapp 30 Prozent klar gewonnen hat. Obwohl sie im Vergleich zu früheren Wahlen kräftig Federn lassen mussten, bekamen die Grünen in Freiburg doppelt so viele Stimmen wie die CDU.

Kompromisse

Jedoch bundesweit gelten die Grünen seit Monaten als Buhmann. Viele, die bisher Grün gewählt haben, spüren, dass die von der Ökopartei vorgeschlagenen Klimaschutzmaßnahmen eine Veränderung des Lebensstils erfordern. 

Genau das empfinden viele Menschen als Bedrohung der bisherigen persönlichen Freiheit, ihrer gewohnten Gemütlichkeit und ihres Wohlstands. Und wenn eine massive Veränderung wie das Heizungsgesetz so schlampig und fehlerhaft kommuniziert wird, dann ist das Vertrauen verspielt. 

Es ist schwer, Vertrauen zurück zu gewinnen. Das gelingt nur mit plausibler Kommunikation, mit Zuhören und Eingehen auf Bedenken und mit Kompromissfähigkeit. Kompromisse einzugehen, ohne noch mehr Herzstücke ihrer Überzeugungen zu opfern – eine Sisyphusaufgabe für die Grünen und die SPD, inbesondere, wenn auf der anderen Seite Betonköpfe wie Christian Lindner von der FDP stehen.

Polizistenmörder

Der Schock von Mannheim sitzt tief. Alles schreit: Weg mit dem Polizistenmörder! Abschieben dahin, woher er kommt, nach Afghanistan! Auch der stets so besonnene Kanzler hört plötzlich auf den Volkszorn und kündigt tatsächlich genau diese Abschiebungen an. 

Kurz vor der Europawahl gibt Olaf Scholz den entschlossenen Law und Order-Mann – in der Hoffnung, dass das murrende Volk erkennt: Ja, die Regierung tut endlich was. Vielleicht gibt’s auch ein paar Stimmen mehr für die SPD bei der Europawahl? Wahlkampfkosmetik und Beruhigungspillen fürs Volk. Trotzdem muss Scholz liefern.

Abschiebung

Es ist jedoch keinesfalls sicher, dass die Abschiebung Wirklichkeit wird. Die Genfer Flüchtlingskonvention verbietet Abschiebungen in Länder, in denen Folter, unmenschliche Behandlung oder schwere Menschenrechtsverletzungen drohen. 

Das Menschenrecht gilt für jeden Menschen, egal ob er ein unbescholtener Bürger oder schwerer Straftäter ist. Ein Grundsatz, an den sich die Bundesregierung bisher gehalten hat. 

Doch jetzt scheint der gesellschaftliche Druck hoch, und es taucht die elementare und schwierige Frage auf. Was wiegt höher, die Einhaltung der Menschenrechte oder der Schutz der Gesellschaft?

Gerichtsprozess

Viele Fragen werden jetzt offen gestellt: Gilt der Grundsatz der Unversehrtheit auch für Flüchtlinge, die einen Mord begangen haben oder andere schwere Straftaten? Haben diese Personen nicht ihr Gastrecht bei uns auf schwerste Weise missbraucht, so dass sie sich nicht mehr auf Schutz bei uns berufen können? 

Eine äußerst schwierige Diskussion. Sie stellt das Selbstverständnis und die Würde unserer Demokratie in Frage. Zu berücksichtigen ist auch folgendes Problem: Würde die Bundesregierung den Mannheimer Polizistenmörder sofort abschieben, käme er ungestraft davon. Es gäbe in Deutschlang keinen Gerichtprozess und keine Verurteilung, nach der der Täter möglicherweise für lebenslang hinter Gittern müsste. 

Noch wichtiger: Die Tat würde vor Gericht nicht aufgearbeitet werden. Jedoch haben Analyse und Aufklärung der Tat eine eminente Bedeutung für die Angehörigen der Opfer und für die Gesellschaft.

Prävention

Jedoch die Gesellschaft ist es, die derzeit um ihre Sicherheit fürchtet. Da helfen Forderungen nach mehr Abschiebungen nach Syrien oder Afghanistan nicht viel. Solche Attentate wie in Mannheim oder vor einem Jahr im Regionalzug in Brokstedt kann man nicht einfach durch Abschiebungen verhindern. 

Nur weil einzelne radikale Menschen nicht mehr in Deutschland sind, ist die Ideologie des radikalen Islamismus nicht weg. Es muss mehr dafür getan werden, dass junge Muslime sich nicht radikalisieren. Mehr Präventions-, und Integrationsarbeit. Aber genau bei diesen wichtigen Aufgaben im sozialen Bereich fordert Sparminister Lindner massive Kürzungen. 

Dabei ist es gerade so dringend, mehr Stellen für die psychosoziale Betreuung von Geflüchteten zu schaffen und mehr Geld in die Demokratieerziehung und politische Bildung zu stecken. Lindner mit seiner Sparwut knausert mal wieder am falschen Ende.

Parken auf Gehwegen

Zwei Urteile aus jüngster Zeit haben meine Stimmung in dieser tristen Zeit merklich aufgehellt. Beide betreffen in weitesten Sinne die individuelle Freiheit. In einem Fall geht es darum, den Gehweg von parkenden Autos zu befreien. Im anderen Fall um Pressefreiheit. 

Zwei Räder auf der Straße, zwei Räder auf den Bürgersteig. Kein Durchkommen mehr für Fußgänger. Besonders ärgerlich für Rollstuhlfahrer und Eltern mit Kinderwagen. Parken auf Gehwegen. Eine Unverschämtheit von Autofahrern. Eigentlich nicht erlaubt laut Straßenverkehrsordnung. Trotzdem toleriert jahrelang in den meisten Städten.

Anwohner-Urteil

Gegen diese Unsitte kann man laut einem wegweisenden Urteil jetzt endlich vorgehen. Das Bundesverwaltungsgericht gibt in letzter Instanz Klägern aus Bremen Recht, die gegen die Verkehrsbehörde der Hansestadt geklagt haben. Aber Gemach: das heißt nicht, dass die Gehwege in Städten bald grundsätzlich autofrei werden. 

Nein, das Gericht hält immer noch die schützende Hand über des Deutschen liebstes Kind, das Auto. Nicht überall dürfen falschparkende Autos abgeschleppt oder Bußgelder verhängt werden. 

Nur Anwohnerinnen und Anwohner, die feststellen, dass nicht genügend Platz auf dem Gehweg vor der eigenen Haustür ist und das den Behörden melden, haben einen Anspruch darauf, dass Städte und Kommunen die Situation vor Ort prüfen. Die Bürokratie lässt grüßen!

Priorisierung

Das Gericht gesteht den Behörden einen weiteren Spielraum zu. Sie können ein Priorisierungs-Konzept entwickeln. Das heißt, je nachdem, wo die Gehwege am schlimmsten vollgeparkt sind, kann die Stadt aktiv werden. 

Ein Urteil mit Signalwirkung für andere Städte und Kommunen? Vielleicht. Fest steht, es gibt zu viele Autos in den Städten. Es muss was getan werden: Konsequente Durchsetzung der Straßenverkehrsordnung, mehr Quartiersgaragen, mehr Carsharing und andere intelligente Verkehrskonzepte.

Pressefreiheit

Im anderen Fall geht es um die Pressefreiheit, konkret um einen politischen Prozess gegen einen Redakteur des Freiburger alternativen Senders Radio Dreyeckland. Der hatte in einem Online-Artikel das Archiv der verbotenen Internet-Plattform „linksunten.indymedia“ verlinkt. 

In dem Artikel vermeldet der Journalist die Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen die mutmaßlichem Betreiber von „linksunten.indymedia.“ Der Vorwurf: Mit der Verlinkung der Archiv-Adresse habe er eine kriminelle Vereinigung beworben und gefördert. Eine Straftat, so die Staatsanwaltschaft.

Freispruch

Das Gericht sieht dies zum Glück anders und spricht den Angeklagten frei. Die Begründung für den Freispruch ist einleuchtend. Man könne keine Vereinigung bewerben, die nicht mehr existiert, so das Gericht. 

Die Vereinigung war 2017 nach den Hamburger Krawallen vom damaligen Innenminister Thomas de Mazière verboten und aufgelöst worden. Seit 2020 gibt es ein Internet-Archiv, das frei zugänglich ist. Das Archiv beweise nicht, dass die verbotene Vereinigung weiterhin bestehe. Man könne das Archiv nicht direkt mit der verbotenen Seite gleichsetzen, so das Gericht.

Hausdurchsuchung

Folglich konnte der Journalist nicht wegen Unterstützung der Vereinigung verurteilt werden. Außerdem habe der Journalist das Recht, das Verbot der Vereinigung kritisch zu sehen. Die im Grundgesetz garantierte Pressefreiheit schütze auch kritische Berichterstattung, betont der Richter.

Was den Prozess darüber hinaus pikant macht, ist eine fragwürdige Aktion der Staatsanwaltschaft. Die hat im vergangenn Jahr wegen des Links nicht nur die Redaktionsräume des Senders durchsucht, sondern auch die Privatwohnung des Redakteurs. Dabei wurde auch sein Laptop beschlagnahmt. Eine fragwürdige Aktion, die der Journalistenverband zu Recht als unverhältnismäßigen Eingriff in die Pressefreiheit bezeichnet.

 

4 Antworten

  1. Hallo lieber Detlef
    Heute mal 2 Anmerkungen zu deinen Ausführungen
    Die afd zu wählen ist ein stummer Schrei nach Liebe (die Ärzte)
    Es ist meines Erachtens leider so, diese Wähler keine Ahnung haben was sie da anrichten ( Dazu müssten sie ja nachdenken)
    Es ist daher müßig über die Gründe zu mutmaßen
    Zum 2 . die Rückführung von Straftätern nach Syrien oder Afghanistan sollte man nicht vor Ableistung der Strafe in Deutschland versuchen durchzuführen denn dort werden sie dann als Helden gefeiert und gehen sicher straffrei aus

  2. Lieber Detlev,

    „Wir leben in einer Welt, worin ein Narr viele Narren, aber ein weiser Mann nur wenige Weise macht.“ Das hat sich seit Lichtenbergs Zeit zumindest nicht verändert, eher noch durch die Reichweite der billigen Slogans („Deutschland. Aber normal“) auf TikTok und Co. zugespitzt. Die wahrscheinlich nur schwach zu begründende Hoffnung, eine riesige Schar von 16-jährigen Erstwähler:innen könnte das Ruder herumreißen, ist jedenfalls nicht zu halten gewesen. Ich persönlich fand die Wahl zwischen den verschiedenen „Anbietern“ vor allem von ernsthaftem Klimaschutz und menschenwürdigem Umgang mit Geflüchteten nicht ganz einfach.

    Ich denke, die Springerstiefel(-wähler:innen) sehnen sich außer nach Zärtlichkeit nach der versprochenen Normalität, die sie in den letzten Jahren aufgrund von Corona, Kriegen in der Ukraine und Nahost und der Bedrohung durch die Klimakrise teilweise nicht erleben konnten, vielleicht auch nur nicht wahrgenommen haben (das Thema „Jammern auf höchstem Niveau“ hast du ja auch schon mehrfach angeschnitten). Aber Manfred hat wohl damit recht, dass viele die Konsequenzen nicht einschätzen können. „Aber normal“ war Deutschland vorher nicht und wird es noch viel weniger sein, wenn der Einfluss derer wächst, denen die taz gestern schon auf der Deutschlandkarte der Wahlkreissieger die Farbe des Himmels verweigert und durch die nicht nur historisch gerechtfertigte Farbe von Scheiße ersetzt hat.

    Manfreds zweiter Anmerkung würde ich zustimmen, die Taliban zeigen sich auffallend interessiert, was die Aufnahme von abgeschobenen Kriminellen angeht. Verschiedentlich ist in den letzten Tagen deshalb auch vor Nachahmungstaten gewarnt worden.
    Die Alternative, nämlich dass an ihnen gezeigt würde, wie hart die afghanische Justiz durchgreifen kann, ist ja schon aus Gründen der Menschenrechte keine.

    Viele Grüße!

  3. Sehr geehrter Herr Krüger-Sperling,

    zwei Fragen zu Ihrem aktuellen Blog:

    1. Woher nehmen Sie die (indentierte) Gewissheit, dass die jungen AfD-Wähler:innen identisch mit denjenigen Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen sind, die auch auf den Klima-Demonstrationen waren?

    2. Sollte die Feststellung, ob einer ein Mörder ist nicht den Gerichten überlassen werden? (Ich stosse mich an Ihrer Überschrift „Polizistenmörder“.

    Und noch ein Hörtipp zu „linksunten“:

    https://podcasts.apple.com/de/podcast/systemeinstellungen-ein-podcast-von-netzpolitik-org/id1743955897?i=1000655149874

  4. Da der link nicht anklickbar ist, hier die Infos:

    Der Podcast heisst „Systemeinstellungen“.

    Er ist von „netzpolitik“

    Die Folge heisst:
    01#Link-Extremismus
    (Kein Tipfehler!)

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